Wie irrwitzig unser Verhalten ist, zeigt ein kleines Gedankenexperiment
Seit April dieses Jahres trinke ich keinen Alkohol mehr. Nachdem ich einen halbwegs distanzierten Blick auf mein Trinkverhalten geworfen hatte, erschien mir das als die einzig sinnvolle Schlussfolgerung. Ich erinnere mich an den Anfang der Corona-Pandemie: Überall herrschte Unsicherheit. LOCKDOWN! Das Wort war damals noch nicht abgenutzt wie der Flicken auf den Ellbogen eines Mathelehrer-Tweed-Sakkos. Es hatte noch Wirkmacht, etwas Unbekanntes, Brachiales.
Die Reaktion: Man machte es sich gemütlich zu Hause. Und wie geht das hierzulande? Indem man erst einmal „einen trinkt". Also nur zu besonderen Anlässen, versteht sich. Nun ist eine Pandemie aber ja ein fortwährender besonderer Anlass, nicht wahr? Daher schlich sich das auch bei mir so ein, dass ich mir plötzlich ein Feierabendbier gönnte. Vorher assoziierte ich das eher mit körperlich hart arbeitenden Menschen. Nun habe ich als jemand, der beruflich hauptsächlich Texte in eine Tastatur hackt, wenig gemeinsam mit jemandem, der unter Tage malocht oder auf Autobahnen die Fahrbahn teert, während Blechkarossen an ihm vorbeijagen. Und dennoch, so schien es mir, hatte ich mir mein tägliches Bier „verdient". Wie und warum bleibt unklar. Und an manchen Tagen folgten sogar noch zwei, drei hinterher.
Überhaupt scheint Alkoholkonsum tief in unserem Leben verankert. Wer nicht aus Gründen der Geselligkeit trinkt, trinkt aus Genuss. „Des Wodkas reine Seele", „Eine Perle der Natur" – Ich kenne kein anderes Nervengift, das so harmlos – ja fast schon gesund – umschrieben wird wie der gute alte Alk.
Wie alle Drogen hat Alkohol einen Einfluss auf unser Wesen und unser Verhalten. Bis zu einem gewissen Pegel werden wir geselliger, lustiger, aufgeschlossener, lockerer. Das leugne ich gar nicht. Daher ist Alkohol unmittelbar mit Partymachen verbunden. Mit Alkohol entdeckt selbst manch Bewegungsmuffel den Tanzbären in sich. Die Frage ist: Zeigt Alkohol unser wahres Ich? Sind wir in der Regel nur so verklemmt und „unlustig", weil der harsche Alltag auf unsere Stimmung schlägt und wir mit ein paar Promille im Blut endlich so sein können, wie wir sind? Vermutlich ist es umgekehrt und das Langweilige, Angepasste ist nun einmal unser Normalzustand. Wäre das schlimm?
Erzählt man, dass man nicht trinkt – also nicht nur jetzt gerade – sondern grundsätzlich –, stutzt manch ein Gegenüber. Dann folgt entweder Stille oder so etwas wie: „Ach so, verstehe… (*zwinkerzwinker*)…" Seltsam.
Warum gab es bislang niemals betretenes Schweigen oder pseudo-verständnisvolles Zwinkern, wenn ich erwähne, dass ich nicht kiffe? Weil Cannabiskonsum (noch) keine Lobby hat. Dabei sind bislang noch keine Cannabis-Toten nachgewiesen worden, aber alle zwölf Sekunden verstirbt jemand an den Folgen von Alkoholkonsum.
Wie absurd unser Verhalten ist, zeigt ein kleines Gedankenexperiment. Wir ersetzen Alkohol durch eine andere Droge: Auf dem Familiengeburtstag trinken wir keinen Begrüßungssekt, sondern essen erst einmal einen leichten Hasch-Brownie. Und später reicht Tante Helga jeder Person Joints. Etwas dünnere zum Essen und daumendicke danach. Verdauung und so … Und da Onkel Bertram schon sein ganzes Leben kifft und viel verträgt, zieht der einen Dübel nach dem nächsten durch und muss später von seiner Frau nach Hause gebracht werden. Die kann schließlich noch fahren, denn die hatte nach dem Hasch-Brownie ja nur noch einen klitzekleinen Joint geraucht …
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich fühle mich weder überlegen, noch will ich jemanden missionieren, noch weiß ich, ob meine Abstinenz von Dauer sein wird. Wenn man sich aber die Absurdität unseres Umgangs mit Alkohol vor Augen führt, wünsche ich es mir sehr.
Darauf erst einmal eine Limo. Die hab ich mir schließlich verdient. (*zwinkerzwinker*)