Eigentlich sollte man denken, dass den Pflegeberufen durch die Pandemie endlich die notwendige Anerkennung zuteilgeworden ist. Doch genau das Gegenteil ist offenbar der Fall. Derzeit fehlen so viel Pflegekräfte in den Einrichtungen wie noch nie, sagt Christine Vogler, die Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR).
Frau Vogler, seit knapp einem halben Jahr sind Sie die Präsidentin des Deutschen Pflegerates – mitten in der Pandemie mehr als nur ein Sprung ins kalte Wasser?
Das war für mich gar nicht das Entscheidende, dass ich mitten in der Pandemie zur Vorsitzenden gewählt wurde, beziehungsweise habe ich das nicht so empfunden. Bewusst war mir: Ich werde mitten in einer seit Jahren andauernden Pflegekrise zur Präsidentin gewählt. Die Aufgaben für den Pflegerat sind nicht neu, sondern wir arbeiten daran schon seit Jahren, seit Jahrzehnten. Der Unterschied zu der Zeit vor der Pandemie ist, dass jetzt die seit Jahren bestehende Pflegekrise überdeutlich wird. Damit wird jetzt der Mangel an Pflegekräften in den Einrichtungen der breiten Öffentlichkeit überhaupt bewusst und der seit Jahren andauernde Zustand nun tatsächlich in der Breite der Bevölkerung wahrgenommen.
Und der Pflegerat ist damit auch selbst gerade in den letzten Wochen in die Kritik geraten, denn Sie lehnen eine Impfpflicht für Pflegekräfte ab, obwohl die vierte Welle tobt. Warum?
Moment, wir sind nicht gegen eine Impfpflicht in den Einrichtungen! Wir sind gegen eine Impfpflicht, die sich gegen eine einzige Berufsgruppe in diesem sehr breiten Feld von Aufgaben kapriziert. Die Pflegenden machen ihren Job mit einem hohen ethischen Anspruch, und ein sehr großer Teil der Pflegenden in den Krankenhäusern ist geimpft. Es ist richtig: Auch in unseren Reihen gibt es Ungeimpfte, und das empfinden wir als Pflegerat und ich als Vorsitzende als äußerst schwierig. Ungeimpfte sind ein geringer Teil der Pflegenden, denn zu 90 Prozent sind die Kolleginnen und Kollegen in den reinen Pflegeberufen in den Kliniken laut einer validen Studie geimpft. Eine Impfpflicht in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen nur für das Fachpflegepersonal bringt überhaupt nichts, sondern wir müssen alle Mitarbeitenden in den Blick nehmen – also einrichtungsbezogen vorgehen.
Also von den 1,2 Millionen Pflegekräften sind über eine Million geimpft. Trotzdem heißt es immer wieder, nicht geimpftes Pflegepersonal sei schuld an Corona-Ausbrüchen in den Einrichtungen.
Und da müsste es dann richtigerweise heißen, Mitarbeiter der Einrichtungen waren nicht geimpft. Dazu muss man wissen, dass die Pflegefachkraftquote in den Langzeiteinrichtungen lang nicht so hoch ist wie in den Kliniken. Die Quote liegt dort bei maximal 50 Prozent. In einem Altenheim sind also maximal die Hälfte der Beschäftigten tatsächlich ausgebildete Pflegekräfte. Wir haben in den Altenheimen in den letzten Jahren eine regelrechte Dequalifizierung erlebt. Von zehn Mitarbeiterinnen sind also maximal fünf Pflegefachkräfte, und die anderen fünf können Pflegehelfer, Betreuungsassistenten oder ähnliches sein. Da hilft es in so einer Einrichtung wenig, jetzt die Pflegekräfte alle zu impfen, während beim Rest ein Schnelltest reicht. Dazu kommt, dass dieser Personalschlüssel häufig unterlaufen wird. Also habe ich auch mal nur drei Fachpfleger in der Einrichtung, und die sieben anderen würden dann durch eine Impfpflicht für Pfleger gar nicht erfasst.
Das heißt für den Gesetzgeber?
Wenn ich eine Impfpflicht durchsetzen will, dann muss ich diese für die komplette Einrichtung erlassen. Also alle diejenigen, die mit den Patientinnen oder den Bewohnern zu tun haben; das Pflegepersonal, Helfer, Betreuer, die Mitarbeiter in der Küche oder auch der Hausmeister müssen dann geimpft werden. Nur dann macht eine solche Impfpflicht Sinn.
Laut dem Präsidenten der Intensivmediziner, Prof. Gernot Marx, sind allein in diesem Jahr 4.500 Intensivbetten weggefallen, weil es keine Pflegekräfte gibt. Wie kann das sein, gerade jetzt?
Sehen Sie, das ist so ein klassischer Fall, wo durch die Pandemie ein weiterer, unhaltbarer Zustand im Pflegebereich jetzt von der breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Auf den besorgniserregenden Zustand auf den Intensivstationen weisen wir ebenfalls seit Jahren hin. Intensivpflegerinnen müssen beispielweise ihre Intensiv- und Anästhesie-Fortbildung selber bezahlen, obwohl es dazu eine Verpflichtung für das Personal in den Kliniken gibt. Ohne die fortlaufende Qualifizierung der Pflegekräfte dürfen die Krankenhäuser diese Stationen nicht weiter betreiben, doch da hat sich in den letzten zehn Jahren niemand strukturiert und planvoll gekümmert. Und dass es nun in den letzten Monaten offenbar zu so einem erheblichen Wegfall von Intensivbetten gekommen ist, hängt auch damit zusammen, dass viele Intensivpfleger nach einem Jahr Pandemie einfach nicht mehr können. Sie haben die Station gewechselt, ihre Arbeitszeit verkürzt, oder gekündigt.
Wie reagiert die Politik darauf, wenn Sie Ihnen diese Hintergründe erläutern?
Ich habe gerade in einer Fernsehtalkshow erlebt, dass der CSU-Chef Markus Söder der neu entstehenden Bundesregierung Vorschläge gemacht hat, was jetzt eine Ampel alles in der Pflege beachten und neu organisieren muss. Da wundere ich mich, denn Markus Söder hätte den nötigen Einfluss auf die alte Bundesregierung gehabt, ist bayerischer Ministerpräsident. Warum hat er denn das alles längst nicht mal versucht anzuschieben? Ich bin jetzt seit über 20 Jahren berufspolitisch hoch aktiv und meine Lehre ist, alle vier Jahre fangen wir im Pflegerat wieder von vorn an. Alle vier Jahre haben wir auf der politischen Ebene neue Ansprechpartner, die dann erklären, wie unsere Jobs in der Pflege eigentlich laufen müssen. Das ist das Problem: Pflege und Heilberufe sind ein hochkomplexes System, und eine Legislatur von vier Jahren ist zu kurz, bis dann auch von den politisch Handelnden verstanden wird, wo die tatsächlichen Probleme liegen.
Haben Sie eventuell ein Lobby-Problem, also dass Sie als Pflegende im politischen Berlin nicht gehört oder überhört werden?
Ich würde noch einen Schritt vorher anfangen. Wir haben keine Selbstverwaltungsstrukturen, wir haben keine Ressourcen, keinen Stab von Referentinnen, die fundiertes Zuarbeiten und Grundlagen entwickeln können. Ganz zu schweigen von einer Pressestelle oder gar Öffentlichkeitsarbeit. Die Bundesärztekammer hat die entsprechenden Fachleute in Referaten, und die können dann zu den entsprechenden Fachfragen Positionspapiere vorbereiten und auch im Bundestag in den Ausschüssen vorstellig werden. So etwas hat die Pflege nicht. Es gibt den Deutschen Pflegerat, das sind sieben ehrenamtliche Präsidiumsmitglieder und drei Festangestellte in einem kleinen Büro. Das war es auch. Wenn man die Pflege also endlich in einer Selbstverwaltung zusammenfassen würde, dann könnten wir auch eine schlagkräftige Lobbyarbeit im Sinne der Pflegebedürftigen und der Berufsgruppe organisieren, aber so sind wir als Pflegende immer ein Anhängsel. Und dann stellt sich der scheidende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf den Deutschen Pflegetag und sagt uns mit der Inbrunst der Überzeugung: Wir müssen uns besser organisieren! Das ist im Grunde eine Unverschämtheit.
Weil die Politik, also das Bundesgesundheitsministerium, den Weg dazu ebnen müsste?
Natürlich ist das eine politische Entscheidung, wenn man die Pflege aufwertet und in die Selbstverwaltung überführt. Konsequent wären Pflegekammern auf Landes- und Bundesebene, deren Vertreter dann bei den Entscheidungen im Gesundheitsbereich auch tatsächlich in den Gremien vertreten sind und deren Meinung dann auch gehört werden. Das Problem, warum die Pflege nicht mal am Katzentisch sitzt, hat auch etwas mit der deutschen Gesundheitsgeschichte zu tun. Im Gesundheitswesen gibt es hierzulande eine ärztliche Zentriertheit, und alles rankt sich um den Arzt. Alles andere läuft nebenbei. Also nicht nur wir Pflegende, sondern auch die Physio- oder Ergotherapeuten und alle anderen Heilenden sind, wenn man es sehr positiv ausdrücken möchte, nachgeordnet und das muss sich ändern. Das wäre übrigens sehr zum Wohle der Patienten.
Darum auch Ihre Forderung, Ärzten vorbehaltene heilkundliche Tätigkeiten sollen von Pflegenden übernommen werden?
Ganz genau. Da geht es unter anderem auch um die ambulante Versorgung vor allem in der Langzeitversorgung. Das kann zu Hause sein oder in den entsprechenden Pflegeeinrichtungen. Da haben wir es mit einer bettlägerigen Person mit einer offenen Wunde zu tun. Wenn ich jetzt ein Pflegebett brauche, dann muss ich erst zum Arzt gehen, und der verschreibt dann quasi das Bett, damit die Kosten übernommen werden. Und der Arzt, der die Wunde sehr viel seltener sieht, muss das Wundmaterial verschreiben, obwohl er den Verlauf und die Wundheilung nicht unmittelbar begleitet. Dann kann die Pflegefachperson bei entsprechender Qualifizierung das doch gleich selbst verschreiben, denn diese weiß, worum es geht. Und da gibt es in unserer Alltagsarbeit Hunderte von Beispielen, bei denen Pflegende immer erst einen Arzt konsultieren müssen und dann erst vernünftig handeln können. Für den zu Pflegenden oder Patienten ist dies sehr zeitaufwendig. Für die Pflegefachkraft wäre es zeitsparend. Aber viel wichtiger – es wäre eine Aufwertung unseres Berufes. Das würde zu mehr Zufriedenheit durch Verantwortung führen. Eine Verantwortung die wir ja ohnehin haben. Wir müssen uns aber die nötigen Maßnahmen am Patienten immer erst durch einen Arzt absegnen lassen.
Glauben Sie, dass Sie das unter einem Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Ampelregierung durchsetzen können?
Das ist tatsächlich eine richtig schwere Frage. Dazu müsste ich wissen, wer als nächstes das Gesundheitsministerium leitet. Klar ist, es braucht einen richtig mutigen Menschen, der auch mal sehr unpopuläre Entscheidungen trifft und diese dann auch tatsächlich gegen alle Widerstände durchbringt. Vor allem braucht es Menschen, die endlich mal den Pflegenden zuhören und aus deren Erfahrungen dann die richtigen, politischen Schlüsse ziehen. Ich bin ein sehr positiv denkender Mensch, aber nach meiner 30-jährigen Erfahrung habe ich so etwas ganz selten erlebt. Jüngstes Beispiel: Zum Infektionsschutzgesetz ist gerade ein Beirat gegründet worden, der die Politik beraten soll. Alle Berufsgruppen aus diesem Bereich sind dabei. Aber keine Pflegewissenschaftlerin.