Jeden Tag ein neuer Höchststand. Die Pandemie hat das Land fester im Griff als je zuvor. Ob die geplanten neuen Maßnahmen ausreichen, ist längst nicht ausgemacht.
Der besorgte Blick von Lothar Wieler geht über den oberen Rand seiner rahmenlosen Brille. Nach kurzem Überlegen muss er dann ganz offiziell eingestehen, „das Wort Herdenimmunität haben wir gestrichen". Auf FORUM-Nachfrage in der Bundespressekonferenz also die offizielle Zäsur der deutschen Corona-Politik durch den Chef des Robert-Koch-Instituts. Es ist zugleich ein Eingeständnis, dass man es nicht mehr schafft, durch Impfen breite Kreise der Bevölkerung vor den gröbsten Auswirkungen von Covid-19 zu schützen.
Trotzdem versucht Wieler, zu beruhigen: Das Virus lasse sich langfristig kontrollieren, doch dafür müssten mindestens 90 Prozent der Menschen eine Immunität gegen Covid-19 erlangen. Noch vor einem halben Jahr war er der Auffassung, bereits ab 75 Prozent sei diese erreichbar.
Wobei Herdenimmunität nicht bedeutet, dass das Virus besiegt wäre. Es werde endemisch, so Wieler, also eine Krankheit, die auf niedrigem Niveau bleibt, aber auch immer wieder für Todesfälle verantwortlich sein wird. Deshalb bleibt er dabei: „Ich empfehle dringend den Weg der Impfung. Die Impfstoffe sind sicher."
Virus lässt sich langfristig kontrollieren
Doch selbst wenn jetzt alle noch nicht Geschützten die Impfzentren stürmen würden, ist der Kollaps der Kliniken in Sicht. Selbst ein Impfblitz, der die Zahl der Geschützten auf über 90 Prozent der Bevölkerung von jetzt auf sofort steigen lassen würde, würde sich frühestens in der Woche vor Weinachten durch eine Entlastung der Intensivstationen zeigen. Doch zu einem Impfblitz wird es nicht kommen, und auch das Boostern der bereits Geimpften kommt nicht so voran, wie es wohl notwendig wäre.
Wegen der drastischen Ausbreitung des Coronavirus erneuert der RKI-Chef seinen Appell, die Menschen in Deutschland sollen ihre Kontakte auf das Nötigste beschränken. „Es ist fünf nach zwölf, die vierte Welle trifft uns jetzt mit voller Wucht." Für präventive Maßnahmen ist es viel zu spät, und für den Wissenschaftler Lothar Wieler ist es ein beinahe hilfloser Versuch, mit 2G- und 3G-Regelungen die Lage irgendwie wieder in den Griff zu bekommen. Nicht nur Wieler kritisiert, dass die ganzen Maßnahmen nicht nur zu spät kommen. Wenn sie zudem nicht konsequent überprüft würden, könne man sich das auch gleich ganz sparen. Deshalb ist aus seiner Sicht klar: „Will man die vierte Welle brechen, dann muss man die Freiheiten des nicht vor Covid-19 geschützten Personenkreises drastisch einschränken."
Also flächendeckend 2G einführen, in Restaurants, Lokalen, Unterhaltungseinrichtungen, Kultur oder Sport in geschlossenen Räumen: Zutritt nur für Geimpfte oder Genesene – und zwar bundesweit einheitlich und nicht nur in einigen Ländern. Dazu 3G in den Fernzügen der Bahn. Und das alles rigoros mit allen verfügbaren Kräften überprüft. Ein besonderer Dorn im Auge Wielers ist des Deutschen „heilige Kuh": Fußballbundesliga vor Zuschauern. Doch an den millionenschweren Fußballzirkus traut sich derzeit noch kein Politiker heran. Dabei liegt die Forderung für Großveranstaltungen, nicht nur im Sport, sondern auch in Unterhaltung, Kultur oder Weihnachtsmärkten, längst auf dem Tisch: 2G-Plus. Zu einem Massenspektakel im Stadion, Oper oder Popkonzert dürften damit nur noch Geimpfte oder Genesene, die noch einen aktuellen Schnelltest nachweisen können.
In einigen Bundesländern wie Berlin wird dies längst vorbereitet. Doch die Veranstalter mosern, denn 2G-Plus bedeutet zum einen eine immense Einlass-Logistik, also erheblich mehr Personal zum Überprüfen. Zum anderen könnte 2G-Plus die Besucher auch abschrecken, denn dies hieße, dass die Leute erst mal vorm Testzentrum Schlange stehen müssen, um dann anschließend in der Schlange auf den Einlass zum Vergnügen zu warten.
Die Alternative dazu kann aus Virologen-Sicht nur heißen: Lockdown. In Sachsen hat Ministerpräsident Kretschmer (CDU) bereits die Reißleine gezogen und die Weihnachtsmärkte zwei Wochen vor dem ersten Advent abgesagt. Also dann doch lieber 2G-Plus? Sollten die Inzidenzen nämlich weiter so rasant steigen, droht als Nächstes nicht nur den Glühweinständen, sondern dem ohnehin gebeutelten Einzelhandel Ungemach.
Nicht-Geimpfte dürfen momentan mit tagesaktuellem Negativ-Test weiter shoppen gehen. Doch jetzt gibt es erste Überlegungen, auch im Handel, außer bei dem Lebensnotwendigen, 2G einzuführen. Was erschwerend: Es gibt keine einheitliche politische Führung, Bundeskanzlerin Merkel will offenbar nicht mehr führen, der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz kann noch nicht führen. Mit seiner möglichen zukünftigen Ampelregierung hat er allerdings im Bundestag ein neues Corona-Gesetz eingebracht, das die Maskenpflicht fortschreibt und 3G am Arbeitsplatz festschreibt.
Neue Regelungen im politischen Machtvakuum
Zwar hat man auch einen Lockdown für nicht Geimpfte nach österreichischem Vorbild ins Auge gefasst, doch da müssten die Länder mitspielen. Nach wochenlangem Hin und Her konnten sich die politisch Agierenden denn auch zu einer Ministerpräsidentenkonferenz Mitte November durchringen. Dabei sind sich die Länder zwar einig, dass nur hartes Durchgreifen hilft, aber immer der lokalen Lage angepasst. Frei nach dem Motto, „das Saarland ist doch nicht Sachsen, und wenn die im Osten nicht geimpft sind, müssen sie sich nicht wundern, wenn die Intensivstationen überfüllt sind", wie es ein politischer Beobachter gegenüber FORUM auf den Punkt bringt.
Warum es in diesem Herbst überhaupt wieder soweit kommen konnte, dafür gibt es viele Erklärungen. Eine davon findet sich fern von der großen Politik und den Virologen ganz praktisch in einem kleinen Kosmetikstudio in Berlin-Schöneberg. Das wurde Ende April diesen Jahres zum Testzentrum umfirmiert. Die kostenlosen Bürgertests haben ihre Inhaberin Ebru Hücüptan im Frühjahr vor dem sicheren Konkurs gerettet. Früher las die Kosmetikerin gern mal die „Vogue", heute ist sie im Netz regelmäßig auf den Seiten des RKI. In den letzten Monaten hat sich die Kosmetikerin zu einer erfahrenen Praxis-Corona-Expertin fortgebildet.
„Als man Anfang Oktober die kostenlosen Schnelltests eingestellt hat, war mir klar: Das kann nicht gutgehen. Das Testaufkommen bei mir ist beinah zusammengebrochen, und das zu Beginn des Herbstes, der beginnenden Grippe- und Erkältungszeit, wie vor einem Jahr."
Mit der Einstellung der kostenlosen Tests wollte man die Impfbereitschaft pushen, was überhaupt nicht funktioniert hat, ganz im Gegenteil, es hat die Impfgegner in ihrer Renitenz noch bestätigt. Doch die Abschaffung der kostenlosen Corona-Tests war noch aus einem anderen Grund offenbar völlig kontraproduktiv. Hücüptan hat dafür eine Erklärung: „Wo sind die ganzen Nicht-Geimpften abgeblieben? Denen war der Test mit 15 Euro zu teuer. Die sind nur noch gekommen, wenn es gar nicht anders ging, aber der Großteil meiner ungeimpften Kunden hat sich nicht mehr testen lassen". Mit dieser Beobachtung ist sie nicht allein.
Das Ergebnis der politischen Entscheidung schlägt sich jetzt auf den Intensivstationen nieder. Mit Abschaffung der kostenlosen Tests ist die Dunkelziffer der Infizierten offenbar explodiert.
Seit dem 13. November kann sich jeder Bürger wieder kostenlos auf das Coronavirus testen lassen. Damit hat dann jeder Anspruch auf mindestens einen kostenlosen Antigen-Schnelltest (PoC-Test) pro Woche – und dies gilt unabhängig vom Impf- oder Genesenenstatus.Bestehende Testzentren können ihre Arbeit fortsetzen.
Im RKI geht man davon aus, dass die ohnehin auf Rekordniveau befindlichen Inzidenzwerte nach der Wiedereinführung der kostenlosen Bürgertests wieder hochschnellen, weil dann logischerweise mehr Fälle aufgedeckt werden.