Wer ein ordentliches Schlittschuhabenteuer erleben möchte, kann ins schweizerische Engadin fahren, wo Wanderwege im Winter in Eisbahnen verwandelt werden.
Die Fichten sind mit Schnee betupft, der Waldweg glänzt kristallweiß. „Scratschsch" machen die Stahlkufen von Daniel Bechtinger, ein hartes, schneidendes Geräusch. Schwungvoll gleitet er durch den Winterwald im Unterengadin und hinterlässt auf der Eisfläche schön gebogene Spuren. In langen Zügen wirft er seine Beine seitwärts. Die Hacken fliegen, die Arme schwingen. Knie und Oberkörper sind nach vorn gebeugt, um auf der Rundbahn von Sur En in Fahrt zu kommen. Schlittschuhlaufen ist Bechtingers Passion. Nach zehn Minuten steht er wieder am Start.
Die Studentin Doreen Davaz dagegen macht ihre ersten wackeligen Schritte auf dem spiegelglatten Untergrund, setzt vorsichtig einen Fuß neben den anderen. Hilfsbereit nimmt der Profi die Anfängerin unter den Arm. Schon läuft sie sicherer. Nicht jeder findet sogleich Standfestigkeit. Die Ungeübten wackeln, eiern, balancieren und – pardauz, schon sitzt man auf dem Hosenboden. Die meisten Läufer, Pärchen und Familien gleiten erst mal vorsichtig über das Eis. Anders der 15-jährige Allessandro, der zu Hause in Luzern Eishockey spielt und profimäßig ausgerüstet ist. Rasant skatet er los, fast in der Hocke. Großes Gedränge gibt es nicht, und Alessandro ist versiert. Trotzdem müssen die Läufer aufpassen, wenn vor ihnen plötzlich einer anhält oder stürzt.
Die Eisfläche zieht sich als weiße Schleife durch die Landschaft, meist ebenerdig, mal kurvig, mal leicht abschüssig. Von den Tannen lösen sich vereinzelt Schneebatzen, manche Stellen sind leicht angetaut. Der dichte Baumbestand schützt das Eis vor direkten Sonnenstrahlen.
Ein Ausrutscher brachte die Idee
Natürlich zugefrorene Eisflächen existieren in Zeiten des Klimawandels ja nur noch im Hochgebirge oder auf flämischen Gemälden wie von Pieter Brueghel dem Jüngeren. Für ein ordentliches Schlittschuhabenteuer kann man aber ins Engadin fahren, wo Wanderwege winters in Eiswege verwandelt werden. Vor ein paar Jahren habe es bis ins Inntal geregnet, erzählt Mario Riatsch die Geschichte von seinem Eisweg. Der Förster fiel auf einem der über Nacht vereisten Waldwege hin. Ein Ausrutscher, der ihm eine Idee und ein neues Standbein brachte.
Inzwischen stellt der gebürtige Bündner hohe Anforderungen an die Eislaufbahn, die er 2012 auf 1.500 Höhenmetern eröffnet hat. Angelegt wird sie bereits im Herbst. Eine aufwendige Arbeit, bei der zehn Zentimeter Kunstschnee auf den drei Kilometer langen Parcours aufgebracht und festgewalzt werden. Auf das Fundament werden dann mit einer selbst entwickelten Technik regelmäßig Wasser gespritzt, jedes Mal 3.000 Liter. „Für eine gute Eisschicht brauchen wir 120 Runden", erklärt er. Ist es schön kalt, wird die ganze Nacht durchgefahren. Nadeln, Tannenzapfen und Zweige müssen entfernt werden. Zum Schluss wird nachpoliert wie im Eisstadion.
„Helme sind bei uns Pflicht", sagt Eismeister Riatsch und verteilt sie als erstes. Im grünen Bauwagen am Startpunkt warten außerdem rund hundert Paar Leihschlittschuhe auf tempoverliebte Eistouristen. Ausschließlich Eishockeyschuhe mit gerundeten Kufen, also keine Kunstlaufschuhe mit Zacken, mit denen man sich so herrlich abstoßen und bremsen kann. Eisprinzessinnenträume enden gleich hier. „Mit den runden Kufen fahren heute alle", erklärt der 51-Jährige. Auf der Sur-En-Piste werden keine eleganten Kreise mit zur Schwalbe gestrecktem Bein gezogen. Hier wird richtig Gas gegeben.
Ein Eismeister kümmert sich
Abhängig von den Temperaturen wird der Eisweg kurz vor Weihnachten geöffnet und bleibt es bis Ende Februar. „Wenn der Föhn länger bläst, müssen wir zeitweise schließen", sagt Eismeister Riatsch, der pro Saison rund 3.000 Besucher zählt. Es sind nicht nur Eisläufer. Auch für Skiläufer ist die Bahn eine Alternative, wenn es auf den Bergen schneit oder stürmt. „Der Parcours eignet sich für Anfänger wie für sportive Läufer", sagt er.
Der Eisweg Madulain im Oberengadin ist dagegen ein Freizeitvergnügen ohne große Sportambitionen. Romantisch schlängelt er sich auf einem Kilometer durch die weiß gepuderte Auenlandschaft des Inn. Zum Kufenschwung gurgelt der große Alpenfluss, die weißen Bergkuppen des Piz Kesch glitzern dazu. Ein perfektes Revier für Eisprinzessinnen. Wer keine eigenen Schlittschuhe mitgebracht hat, kann sich in der Tourist-Info von Madulain welche mieten, auch die begehrten weißen, mit Zacken an den Kufen, um Pirouetten zu drehen.
Ein paar Schritte von den hübschen alten Bauernhäusern entfernt befinden sich der Startpunkt und eine Kasse des Vertrauens. Auf den beiden Holzbänken daneben ziehen die Läufer sich die Schlittschuhe an. Die eigenen Stiefel lässt man einfach stehen und läuft los. „In der Schweiz kann man das machen", sagt eine Langläuferin, die in der Loipe neben dem Eisweg daherkommt. „In Madulain erst recht."
Der Eisweg ist nicht durch Wald geschützt, und an diesem Wintermorgen sind nur milde drei Grad. „Schlecht fürs Eis", stellt Eismeister Menduri Willy fest, der im Auftrag der Gemeinde kontrolliert. Wenn die Temperatur unter minus zehn Grad sackt, so Willy, helfe die Lage auf 1.700 Höhenmetern nicht mehr; er müsse den Eisweg sperren. Stattdessen empfiehlt er die Sonnenliegen in der vor einem Jahr eröffneten „River Ranch Lounge", die Kunstgalerie von Madulain oder das benachbarte Zuoz, das vielleicht schönste Dorf Graubündens. Wenn der Eisweg aber geöffnet ist, können Eisprinzessinnen ihre Kreise ziehen wie bei Holiday on Ice.