Während Österreich in den Lockdown geht, wird in Deutschland um die Versorgung mit Vakzinen gestritten. Eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen rückt angesichts der Entwicklung immer näher.
Die eilige Pressekonferenz am Montagmorgen signalisierte Klärungsbedarf. Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) musste einmal mehr versuchen, in die Aufregung und Verunsicherung, die seine eigenen Äußerungen hervorgerufen hatten, etwas mehr Sachlichkeit zu bringen.
Dass nur noch eine begrenzte Menge des Biontech-Impfstoffs ausgeliefert werden sollte, hat mitten in der bislang schwersten Pandemiewelle zu großer Verunsicherung, noch größerer Verärgerung und massivem Druck von den Länderkollegen bis zu den Ärzten geführt. Einmal mehr musste Spahn kleinlaut erklären, seine Äußerungen hätten – eben mal wieder – Missverständnisse hervorgerufen. Zum Beispiel den, dass der Impfstoff Moderna vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums vorrangig verimpft werden sollte. Schließlich stellte sich raus, dass das wohl auch ein –
durchaus vernünftiger – Grund war, dass aber vor allem die Lagervorräte an Biontech ziemlich geschrumpft waren, weil offensichtlich zu wenig bestellt war. Biontech sagte dann umgehend nochmal 10 Millionen Dosen zu.
Wieder mal ein Missverständnis
Dass mit dem exponentiellen Wachstum der Infektionen die zwischenzeitlich erlahmte Impfbereitschaft zunehmen würde und gleichzeitig ein massiver Bedarf an Booster-Impfungen da ist, war in diesem Maße offenbar nicht einkalkuliert. Wäre die Amtszeit des geschäftsführenden Ministers nicht ohnehin vor dem Ende, hätte er dem Sturm von Rücktrittsforderungen nur noch schwerlich standhalten können. Schließlich ist es nur wenige Wochen her, dass er mit seiner lautstarken Forderung nach einem Ende der epidemischen Lage ein ziemlich fatales Signal in die öffentliche Diskussion gesendet hatte.
Nun also einmal mehr das Bemühen, die eigenen Kommunikationspannen einzufangen. Zu spät. Die massive Verunsicherung ist fast noch schneller gewachsen als die vierte Pandemiewelle.
Es ist müßig, einmal mehr darauf zu verweisen, wie früh bereits im Sommer Expertenwarnungen vor einer solchen Entwicklung zu hören waren, auf die Politik insgesamt einmal mehr wie getrieben reagiert, obwohl man doch jetzt im Jahr der Impfungen „vor der Lage" sein wollte.
In dem kommunikativen Desaster gingen Meldungen zur Sache einmal unter. So legte zum Beispiel die Immunologin Martina Sester mit ihrer Arbeitsgruppe von der Universität des Saarlandes die weltweit erste Studie vor, in der alle fünf in Deutschland zugelassenen Impfschemata verglichen wurden, insbesondere mit Blick darauf, welche Kombination bei Booster-Impfungen welche Schutzwirkungen erzeugen. Das Ergebnis in Kurzfassung: die Impf-Kombinationen verschiedener Stoffe wie Biontech oder AstraZeneca mit Moderna bauen die deutlichste Immunantwort auf, gehen aber auch mit etwas mehr Nebenwirkungen einher. Nimmt man diese Untersuchung zur Grundlage, wäre eine Booster-Impfung mit Moderna also im Zweifel sogar noch die effektivere Kombination. Derartige fachliche Betrachtungen verschwinden aber hinter dem politischen Streit.
Dabei wären gerade sie von herausragender Wichtigkeit, wenn man einerseits die bislang noch Zögerlichen und Unentschlossen überhaupt zur Impfung bringen und verunsicherte Geimpfte von einer Booster-Impfung überzeugen will.
Die fast schon flehentlichen Appelle an alle noch nicht Geimpften reichen von Intensivpflegern und Ärzten über Schulelternvertretungen bis zum Bundespräsidenten. Dass man damit keine Hardcore-Impfverweigerer erreicht, ist klar. Aber zumindest sollten die, die für Argumente erreichbar sind, überzeugt werden, um vielleicht doch auf Impfquoten zu kommen, wie sie uns einige europäische Nachbarn vormachen. Offensichtlich mit dem Erfolg, mit ganz anderen Infektionszahlen zu tun zu haben.
Spanien beispielsweise, im vergangenen Jahr noch eines der großen Sorgenkinder in der Pandemie, hat bei einer Impfquote von über 80 Prozent eine sieben-Tage-Inzidenz im zweistelligen Bereich (Stand Mitte November). Deutschland, in den ersten Pandemiewellen noch Vorzeigeland, schafft eine Impfquote von gerade mal etwas über zwei Drittel (68 Prozent vollständig Geimpfte) bei Inzidenzzahlen, die auf die 400 zugehen. Österreich hinkt etwas hinterher (65 Prozent Mitte November), ist in einen erneuten Lockdown gegangen und bereitet als erstes EU-Land eine allgemeine Impfpflicht vor.
Inzwischen ist auch das noch vor Wochen schier Undenkbare in Deutschland zumindest diskussionsfähig geworden: eine Impfpflicht. Für bestimmte Berufsgruppen, beispielsweise im Gesundheits- und Pflegebereich. Der Ethikrat hat die Bundesregierung aufgefordert, das zu prüfen, und sich damit auch angesichts der aktuellen Entwicklungen von früher sehr zurückhaltenden Abwägungen stärker positioniert. Auch die Akademie der Wissenschaften Leopoldina spricht sich für 2G und eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen aus. Dass die Deutsche Gesellschaft für Intensivmedizin (DIVI) gegen eine solche Impfpflicht ist, heißt nicht, dass sie damit der Pandemie in die Hände spielt: Laut einer Befragung Anfang Oktober waren zu diesem Zeitpunkt ohnehin bereits 91 Prozent des deutschen Krankenhauspersonals doppelt geimpft, vier Prozent einmal.
„Impfung bleibt moralische Pflicht"
„Die Impfung bleibt moralisch eine Pflicht", sagt Prof. Gernot Marx, Vorsitzender der DIVI. „Die Lage ist nicht mehr unter Kontrolle." Prognosemodelle der DIVI zeigen, dass im Januar mit 6.000 Covid-Patienten auf Intensivstationen gerechnet werden muss – neben allen anderen Intensivpatienten mit Herzinfarkten, Schlaganfällen, schweren Unfällen. Deutschland verfügt wegen der großen Erschöpfung und Abwanderung von Krankenpflegepersonal nur noch über knapp 9.000 betriebsbereite Betten mit Beatmungsstationen und eine gleich große Notfallreserve.
Frankreich hat bereits im Sommer eine Impfpflicht für Gesundheits- und andere Berufsgruppen (etwa Feuerwehr) beschlossen. Der Direktor der öffentlichen Krankenhäuser in Paris hatte dafür einen einleuchtenden Vergleich: Zugführer müssten schließlich auch einen Sehtest bestehen. Natürlich ging es in Frankreich nicht ohne massive Proteste vor, obwohl damals schon der überwiegende Teil der Betroffenen geimpft war (85 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitsbereich, über 90 Prozent freiberufliche Ärzte und Pflegekräfte). Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen vor allem im Gesundheitsbereich gibt es neben Frankreich auch in Italien, Belgien, Griechenland und Großbritannien, in den USA und in Kanada gibt es eine Impfpflicht für Mitarbeiter der Bundesbehörden.
Gegen die Impfpflicht in Frankreich hat ein Feuerwehrmann (stellvertretend für einige hundert Kollegen) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Klage eingereicht. Mit einem Eilantrag auf Aussetzung der Impfpflicht war er nicht erfolgreich. Für das eigentliche Verfahren muss Frankreich bis Januar 2022 eine Stellungnahme vorlegen. In früheren Urteilen hatte der EGMR eine Impfpflicht als zulässig betrachtet, zuletzt noch im April dieses Jahres im Zusammenhang mit einer Impfpflicht in Tschechien (gegen Diphtherie). Der Verfassungsrechtler Christian Pestalozza hatte unlängst in einem Interview die Frage aufgeworfen, ob der Staat „sogar verfassungsrechtlich zu strengeren Maßnahmen verpflichtet" sein könnte. Sollte es zur Impfpflicht oder zumindest Teil-Impfpflicht kommen, dürfte diese wohl vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Eine Überprüfung durch das oberste Gericht würden auch die Befürworter solcher Maßnahmen begrüßen.