Der Bestsellerautor mit russischen Wurzeln, Wladimir Kaminer, spricht im Interview über Deutschland in der Pandemie, Alexei Nawalny und das plötzliche politische Interesse seiner Mutter.
Herr Kaminer, wie ist es, in der Pandemie viel mit der Bahn zu reisen?
Während der Pandemie gab es so gut wie keine Auftritte. Nur im August und September 2020 bin ich ein bisschen herumgereist, bis ich in Bad Oeynhausen als Kontaktperson zweiten Grades eingestuft wurde. Mit diesem Abenteuer beginnt mein neuestes Buch. Meine Kollegen schrieben mir damals, ich müsse sofort zurückkommen und mich beim Gesundheitsamt vorstellen, weil die Behörden im Notfall auch das Recht haben, von Schusswaffen Gebrauch zu machen. Solch ein Gesetzesausschnitt kursierte in den sozialen Medien, stellte sich aber als Fake heraus. Der Traum verfolgte mich, dass ich auf dem Hinterhof eines deutschen Kulturhauses mit zwei Kugeln in der Brust liege.
Die Vorstellung, dass Kunst und Kultur eine wirksame Medizin gegen psychische Corona-Schäden sein könnten, wurde von der Politik nicht ernsthaft erwogen. Befürchten Sie, dass für Politiker Shoppingmalls wichtiger sind als Theater und Konzertsäle?
Das ist nichts Neues, wir leben in einer Konsumgesellschaft ohne Visionen. Deswegen haben die Menschen solche Zukunftsängste und versuchen bei jeder Gelegenheit, Vorräte anzulegen. Die Politik spiegelt diese Sackgasse wider, in der wir uns alle befinden.
Haben Sie die Deutschen während der Pandemie auch von einer gänzlich neuen, unbekannten Seite kennengelernt?
Unbekannt war mir diese Seite nicht, denn die Probleme waren schon vorher da. Ein großes Problem ist die Zukunft, weil wir keine Vision haben. Für mein Buch habe ich überall auf der Welt Verschwörungstheorien gesammelt. Die einen sagen, das Virus beschleunige die allgemeine Verblödung. Andere meinen, das Virus rüttele die Menschen auf und zeige, dass es so nicht weitergehe. Das Leben und die Werte müssten dringend neu konzipiert werden.
Wie gehen die Deutschen mit Krisen und Katastrophen um im Vergleich zu den Russen?
In manchen Augenblicken können wir Russen viel selbstbewusster mit Katastrophen und Krisen umgehen. Das liegt daran, dass Russen niemandem glauben. Wenn sie irgendetwas in der Zeitung lesen, der Präsident ihnen etwas erzählt oder die Regierung eine Warnung ausgibt – das glaubt in Russland kein Mensch.
Woran liegt das?
An der kranken Geschichte dieses Landes. Es ist zu einer schizophrenen Grundlage des Lebens geworden, dass die Menschen das eine sagen, das andere denken und das dritte tun. Sie haben Corona, und gleichzeitig haben sie es nicht. Und das stört niemanden. Die Russen entwickelten als erste einen guten Impfstoff, aber bis heute ließen sich nur zwölf Prozent impfen. Das zeigt das Misstrauen. Der Präsident, der angeblich von der absoluten Mehrheit des Volkes dermaßen geliebt wird, macht Werbung für Sputnik V. Im Juni hat Putin innerhalb der TV-Sendung „Der direkte Draht" live Fragen von Bürgern beantwortet. Mehr als 1,9 Millionen Fragen sollen nach offiziellen Angaben eingegangen sein. Es ist total peinlich, dass Menschen vor Ort mit niemandem über ihre Probleme reden können, sondern nur mit diesem einen kleinen Mann im Kreml. Diese gestellte Sendung erinnert mich an Breschnews Pressekonferenzen, wo er sich erkundigte, ob es noch Fragen gäbe. Als alle schwiegen, sagte er: „Das kann nicht sein, ich habe hier noch zwei Antworten vor mir liegen!"
Was wurde Putin gefragt?
Die erste Frage war, ob er sich geimpft habe und mit welchem Stoff. „Ja, mit Sputnik V", antwortete er, „zweimal, und ich fühle mich großartig. Ich wünsche mir, dass alle das tun." Ich übrigens auch, aber fast nichts ist passiert. Zwölf Prozent. Die Russen wissen, dass alles, was Putin sagt, gelogen ist. Wenn er sich überhaupt geimpft hat, dann mit einem Präsidentenstoff von einem anderen Stern, der keine Nebenwirkungen auslöst.
Gérard Depardieu hat sich Sputnik V spritzen lassen. Ist der Schauspieler in dieser Hinsicht ein Vorbild für viele Russen?
Depardieu hat sich als absoluter Opportunist gezeigt. Er ist nach Frankreich abgehauen mit all den Geschenken. Die tolle Wohnung in Sibirien, die er von Putin bekommen hat, steht seit einem halben Jahr leer.
Die Freundschaft mit Diktatoren hat schon etwas Prickelndes, aber auf Dauer bekommen sie alle nasse Hosen. Der Platz neben Putin ist wieder frei. Wer könnte da jetzt kommen?
Im letzten Herbst haben Sie wegen ausgefallener Lesungen auch viel Zeit im Bett verbracht. Schreiben Sie im Bett zuweilen neue Geschichten?
Nein, zum Schreiben muss ich schon sitzen. Vielleicht habe ich die Geschichten gedacht, aber nicht geschrieben. Das mit dem Bett ist eine Metapher, ich bin ein aktiver Mensch. Ich jogge gerne.
Sie treten ja auch regelmäßig mit Ihrer „pandemischem Corona-Band" Kaminer & die Antikörpers auf. Haben Sie Geschmack am
Musikmachen gefunden?
Es ist ein großer Spaß, mit einer Band auf einer Bühne zu stehen. Ich stelle mir immer vor, ich wäre Leonard Cohen, der hat auch nicht so richtig gesungen, sondern mehr melodisch rezitiert. Das möchte ich auch lernen. Wir sind erst am Anfang unserer Musikkarriere. Das nächste Konzert ist Ende November geplant.
Ihre Mutter Shanna wird im Dezember 90 Jahre alt und ist Teil der Band. Steht Sie gelegentlich mit Ihnen auf der Bühne?
Nur als Bild. Sie will schon zu Konzerten gehen, aber nicht zu solchen. Nicht dass sie die Band nicht mag, aber sie wird bald 90. Wenn dann Menschen durchdrehen und feiern, ist das für sie ein bisschen anstrengend.
Sie scheint aber noch sehr rüstig zu sein.
Ja, wir waren mit ihr eine Woche an der Ostsee. Es hat beinahe geschneit, aber es war sehr unterhaltsam. Meine Mutter hat plötzlich ein Interesse an Politik entwickelt.
Wie kommt das?
Ganz Deutschland ist ja mit Wahlplakaten beklebt, weshalb uns auf dem Weg von Berlin nach Zinnowitz unglaublich viele Menschen entgegenlächelten. Meine Mutter wollte von mir wissen, ob die alle in den Bundestag passen. Ich musste ihr dann erklären, dass dort nicht alle hingehen. Die anderen bleiben alle im Regen hängen. Das war für sie eine neue Erkenntnis, weil es im Einparteiensystem Sowjetunion immer nur einen Kandidaten gab. Es wäre nicht nachvollziehbar gewesen, warum der eine Kommunist gewählt wird und der andere nicht. Denn sie wollten ja alle das gleiche. Ein bisschen ist das auch in Deutschland so. Die eine Partei will den ökologischen Wandel schneller, die andere langsamer. Die AfD will den auch, aber ohne diese ganzen Windmühlen.
In Russland bilden alte Menschen wie Ihre Mutter oder Gorbatschow eine Ausnahme, weil die traditionell eher kurz und lustig lebten, schreiben Sie. Woran liegt das?
Gorbatschow hat auch lustig gelebt. Und meine Mutter hält die letzten 30 Jahre in Deutschland für die besten ihres Lebens. Das ist vielleicht ein bisschen traurig, aber langweilig war es für sie nicht. Ich persönlich habe überhaupt nichts gegen ein langes Leben, es muss nur ein freies sein mit der Möglichkeit der kreativen Entfaltung.
Mit dem Putsch im August 1991 begann der Zerfall der Sowjetunion und das Ende der Präsidentschaft von Michail Gorbatschow. Warum
sind seine eigenen Bürger ihm mehrheitlich so undankbar? Durch Gorbatschow haben sie doch Reise- und Religionsfreiheit bekommen und dürfen einst verbotene Filme und Bücher konsumieren.
Erstaunlich wenig Menschen sind auf Reisen gegangen. Es wundert mich auch, aber laut Statistik sind es nur zwölf Prozent. Wie bei der Impfquote. Man sagt, Putin werde von 86 Prozent unterstützt. Der Rest steht für liberale Werte und will in die große weite Welt. Es ist ein bisschen wie unter den Taliban.
Ihr Freund, der Politologe und DJ Vitali Shkliarov, war in den USA stellvertretender Wahlkampfdirektor von Bernie Sanders und wurde in seiner Heimat Weißrussland der Spionage verdächtigt. War er dem Geheimdienst als Regimegegner bekannt?
Der weißrussische Diktator Lukaschenko konnte sich nicht vorstellen, dass Menschen auf die Straße gehen, weil sie von ihm die Nase voll haben. In den kleinen Mappen von seinen Geheimdiensten stand immer, dass alle Belarussen ihn mehr mögen als ihre eigenen Eltern. Deswegen war es für ihn sehr frustrierend, dass plötzlich eine Million Menschen gegen ihn auf die Straße gingen. Nur jemand von außen konnte die aufgehetzt haben. Und da war Vitali einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Bevor er sich auf die Reise machte, hatte er vom weißrussischen Innenminister persönlich eine klare Zusage bekommen, dass ihm nichts passiere, solange er sich nicht politisch äußere. Aber er wurde trotzdem beim Einkaufen verhaftet und in den Knast gesteckt, weil Lukaschenko einen Schauprozess wollte.
Sie schreiben, im Untersuchungsgefängnis in Minsk wurde Shkliarov permanent von einer Zelle in die andere verlegt, zu Mördern, Dieben und Banditen. Er wurde rund um die Uhr mit den schlimmsten Hits aus dem „Imperium des Bösen" malträtiert. Was hat die Folter mit Ihrem Freund gemacht?
Einen solchen Optimisten wie Vitali habe ich selten kennengelernt. Aber er ist viel leiser und mühsamer geworden. Es kostet viel Kraft, die Liebe zu der Welt da draußen wieder aufzubauen nach einer solchen Erfahrung. Ohne Liebe zu leben macht wenig Sinn. Hass ist auch eine starke treibende Kraft, aber selbstzerstörend. Eigentlich kann man sich nur in einer Welt gut fühlen, die man mag. Von dieser Liebe hat Vitali ein bisschen im Knast gelassen, aber er versucht sie jetzt nachzuholen. Er hat einen Film über seine Erfahrungen in der Geiselhaft produziert, er heißt „Minsk" und soll auf Festivals wie der Berlinale laufen.
Hat die US-Regierung wirklich damit gedroht, die amerikanische Geisel Vitali Shkliarov mit militärischer Gewalt zu befreien?
Weltweit haben Menschen für ihn gekämpft. Ich habe zum Beispiel im Bundestag Unterstützung für ihn gefunden. Aber letztendlich hat die wichtigste Rolle gespielt, dass Vitalis Status von einem politischen Gefangenen zu einer Geisel geändert wurde. In dieser US-Behörde arbeiten ehemalige Militärs, die überall auf der Welt Geiselbefreiungen durchführen. Die rufen vorher an und sagen, dass sie es sehr begrüßen würden, wenn kein Widerstand geleistet wird.
Putin-Gegner Alexei Nawalny hat sich in einem Interview aus der russischen Haft darüber beklagt, dass er täglich mehrere Stunden Staatsfernsehen schauen müsse, was er als „Gehirnwäsche" bezeichnete.
Das ist eine andere Geschichte. Nawalny ist der einzige ernstzunehmende Gegner von Putin und dessen Regime. Wenn alles nach der Logik der russischen Geschichte weiterläuft, wird er auch der nächste Präsident sein. Das ahnen auch seine Aufseher.
Befürchten Sie nicht, dass das Gefängnis Nawalnys Persönlichkeit zerstören könnte?
Nein, nein, er wird da nicht wirklich gefoltert, sondern konserviert für ein späteres Amt. Putin ist ja nicht unsterblich, irgendwann wird er gehen müssen. Was macht dann seine Entourage? Das Geschehene beim Westen wieder gutmachen. Die Krim zurückgeben wird nicht gehen, aber Nawalny ist ihr Trumpf für zukünftige Verhandlungen, eine unglaublich wichtige Figur. Ich hoffe, dass er da bald gesund herauskommt.
Putin gibt dem irren Diktator Alexander Lukaschenko Rückhalt. Ist er selbst ein Diktator?
Er ist ein Diktator wie Lukaschenko, nur mit viel mehr Möglichkeiten. Ohne Putin wäre Lukaschenko längst weg. Die russische Föderation ist immerhin das größte Land der Erde und trotzdem ausgeschlossen aus der Weltwirtschaft. So macht auch ein Diktatorenleben keinen Spaß. Sein Ende ist unausweichlich.