Sie bleiben nicht aus: Nicht erst seit der vierten Corona-Welle spielen ethische Konflikte im Krankenhausalltag verstärkt eine Rolle. Ein Ethikkomitee kann hilfreich sein, erklären Prof. Dr. Stefan Kleinschmidt und Dr. Benjamin Gronwald vom Universitätsklinikum des Saarlandes.
Prof. Kleinschmidt, Dr. Gronwald, zunächst einmal zu den Begrifflichkeiten: Was ist der Unterschied zwischen einer Ethikkommission und dem Ethikkomitee?
Prof. Kleinschmidt: Die Ethikkommission, die in der Regel aus Ärzten, Juristen und Pharmakologen besteht, ist gesetzlich vorgeschrieben und muss angerufen werden, wenn es um Forschungsvorhaben jeglicher Art am Menschen geht. Vorgehensweisen und Verfahren sind streng protokollarisch geregelt und überwacht, schon aufgrund unserer geschichtlichen Erfahrungen. Die Ethikkommissionen sind in der Regel bei Ärztekammern oder an Unikliniken angesiedelt. Das Ethikkomitee beschäftigt sich dagegen nicht mit Fragen zur Forschung am Menschen. Hier geht es vielmehr darum, bei ethischen Konflikten und Problemen in schwierigen Entscheidungssituationen den Beteiligten Hilfestellung zu leisten und unabhängig zu beraten.
Was heißt das genau?
Dr. Gronwald: Zunächst kann grundsätzlich jede oder jeder, also Patient, Angehörige, Ärzte, Pflegepersonal, eine klinische Ethikberatung anfordern. Dabei gibt es ganz klare festgelegte Regeln für die sogenannte Fallkonferenz wie Zeitrahmen von maximal 60 Minuten, Diskussionsregeln, die Vorstellung der Teilnehmer und das Anfertigen eines schriftlichen Protokolls. Alle Teilnehmer unterliegen der Schweigepflicht. Am Ende sollte ein gemeinsames Fazit stehen, eine Empfehlung, die von allen getragen werden kann. Uns ist bewusst, dass es ein Kompromiss ist, der analytisch entwickelt wurde.
„Ein Ethikkomitee ist kein Konfliktlöser, sondern Mediator in einem Konflikt"
Wichtig ist, dass das Ethikkomitee kein Konfliktlöser ist, sondern vielmehr ein Mediator in einem Konflikt. Das Komitee stellt auch niemals die ethischen Grundsätze wie das Wohltun für Patienten, die Patientenautonomie oder die Gleichheit infrage. Auch die Qualität der medizinischen Behandlung ist nicht Gegenstand der Diskussion. Sie wird als die bestmögliche für den Patienten selbstverständlich vorausgesetzt. Entscheidend sind bei einer Ethikberatung die Fragestellung und das Ziel. Wir sind, um das noch einmal zu betonen, weder Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger noch Ethikpolizei. Alles basiert auf freiwilliger Basis.
Gab es seit Beginn der Pandemie in Deutschland mehr Beratungen?
Prof. Kleinschmidt: Sie sprechen bestimmt die Frage der Triage an. Wir alle haben noch die schrecklichen Bilder aus Italien und Frankreich im März 2020 vor Augen, wo angeblich Ärzte entscheiden mussten, wer künstlich beatmet wird oder wer nicht. Der Arzt muss somit in einer nicht zu lösenden Notlage faktisch über Leben und Tod entscheiden. Wir haben das im Krisenstab am UKS intensiv diskutiert, zumal zu Beginn der Pandemie niemand wusste, was noch alles auf uns zukommen kann. Gott sei Dank brauchten wir die Triage nie anzuwenden.
Wie viele Fälle beraten Sie pro Jahr, und welche Konflikte kommen am häufigsten vor?
Dr. Gronwald: Das ist schwer zu beantworten, da die Dunkelziffer sehr hoch zu sein scheint, das heißt, viele Menschen trauen sich gar nicht, Ethikberatung in Anspruch zu nehmen. Die Beratungszahl liegt bei uns im Durchschnitt im einstelligen Bereich im Jahr. Tendenz steigend, denn das Bewusstsein für Ethikberatung gewinnt an Fahrt durch diverse Gesetzesänderungen und durch die Beschäftigung der Gesellschaft mit diesem Thema. Trotzdem bleibt noch viel Aufklärungsarbeit zu tun.
Prof. Kleinschmidt: Konfliktsituationen kommen zwischen Angehörigen und Behandlungsteam vor. Schwierig wird es vor allem dann, wenn der Wille des Patienten nicht zu ermitteln ist, weil beispielsweise eine Patientenverfügung fehlt. Zunächst geht es meistens darum, die Situation zu ordnen, Ängste zu nehmen, das Ganze runterzubrechen auf ethische Fragestellungen. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass in den meisten Fällen schlecht oder gar nicht kommuniziert wurde. Es liegt also gar kein wirklicher Konflikt vor, sondern vielmehr mangelnde Kommunikation.
Welche Rolle spielen dabei religiöse Ansichten?
Dr. Gronwald: Wir leben in einer zivilen Gesellschaft in einer globalisierten Welt. Da gehören religiöse Ansichten und Überzeugungen zum Alltag dazu. Das betrifft uns in einer Region mit vielen Grenzgängern vielleicht noch viel stärker als in anderen Regionen. Darauf sind wir eingestellt, ob nun im Ethikkomitee oder bei der Seelsorge. Aber auch hier gilt: Die Patientenautonomie ist unumstößlich.
Wer sitzt im Ethikkomitee, und warum gibt es überhaupt eine Ethikberatung?
Prof. Kleinschmidt: Die Grundlagen zur Einrichtung von Ethikkomitees sind Mitte der 70er-Jahre in den USA gelegt worden. Der Fall der 21-jährigen Karen Ann Quinian, die nach Alkohol und Drogenkonsum ins Koma gefallen ist, sorgte für einen bis dato nie gekannten Rechtsstreit zwischen Ärzten und Eltern über die Einstellung der Beatmungsgeräte. Richtungweisend war damals das Urteil des Obersten Gerichts in den USA, das das Patientenrecht über das staatliche und ärztliche Recht stellte. Für Furore sorgte auch der Fall Terri Schiavo in den USA im Jahr 1990. In der gerichtlichen Auseinandersetzung ging es um das Entfernen der lebensnotwendigen Ernährungssonde, bei der sich der Ehemann von Schiavo letztendlich durchsetzte. All das hat der Diskussion über Sterbehilfe, Bioethik oder Patientenverfügungen einen neuen Schub gegeben. Das berührt in jeder Hinsicht ethische Fragestellungen. Seit den 90er-Jahren wird Ethikberatung auch in Deutschland verstärkt diskutiert.
„Tabuthemen wie Tod müssen aus der Schmuddelecke raus"
Dr. Gronwald: Die Einrichtung von Ethikkomitees ist eine Empfehlung der Bundesärztekammer. Mittlerweile gibt es klinische Ethikkomitees an Krankenhäusern mit über 300 Betten sowie Komitees bei der Ärztekammer für niedergelassene Ärzte. Kleinere Häuser wenden sich an bestehende Ethikkomitees an anderen Krankenhäusern und kooperieren somit. 30 Mitglieder ganz unterschiedlicher Disziplinen sind im Ethikkomitee vertreten von Ärzten und Pflegern über Seelsorger und Psychologen bis hin zu Juristen und sogar externen Kräften. Sie arbeiten alle ehrenamtlich. Bei Anforderung einer Ethikberatung kommt ein Kernteam aus mindestens zwei bis fünf Personen zusammen. In der Regel wird die Beratung innerhalb von 48 Stunden vollzogen.
Klinische Ethikberatung vorzuhalten gewinnt auch bei Zertifizierungen im Gesundheitswesen an Bedeutung, zum Beispiel beim Format „KTQ" Kooperation, Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen.
Müssen wir die ethischen Fragestellungen stärker im Bewusstsein von Menschen verankern?
Prof. Kleinschmidt: Wir brauchen eine Haltung der Gesellschaft zu ethischen Fragen. Tabuthemen wie Therapiebegrenzung und Tod müssen aus der Schmuddelecke raus. Erste positive Anzeichen dafür gibt es in der Gesellschaft. Die Kultur ändert sich. Wichtig wären uns die Themen Patientenverfügung, ohne andere damit zu überfordern, die verbesserte Kommunikation, damit vermeintliche Konflikte erst gar nicht entstehen und die Einbeziehung des Umfelds, damit Angehörige, behandelnde Ärzte, das Pflegeteam, aber auch Freunde, besser mit der Situation umgehen können. Patientenverfügungen sollte jede und jeder haben. Infos und Formulare sind beispielsweise auf den Internetseiten des Bundesjustizministeriums herunterzuladen. Statistisch gesehen sollen heutzutage bereits rund 50 Prozent der Deutschen eine Patientenverfügung verfasst haben, also fast eine Verdopplung in den vergangenen zehn Jahren.