Die Eröffnung des Münchner Restaurants „Tantris" am 2. Dezember 1971 läutete nicht nur das Ende der deutschen Trivialküche ein, sondern war dank des Ausnahmekochs Eckart Witzigmann auch der Startschuss für den späteren Siegeslauf der Nouvelle Cuisine in der Bundesrepublik.
Gerade noch rechtzeitig zum 50-jährigen Jubiläum hat der legendäre Münchner Gourmet-Tempel „Tantris" seine Pforten nach monatelangen Restaurierungsarbeiten wieder öffnen können. Dem Facelifting waren dabei durch die Auflagen des Denkmalschutzes recht enge Grenzen gesetzt. Schließlich war der anfangs von den Einheimischen wegen seines unansehnlichen Äußeren noch als „Autobahnkapelle" oder „Feuerwache" verspottete Betonbau mit seinem unkonventionellen, farbenfrohen Innenleben 1972 unter die kulturhistorisch bedeutsamen Güter eingereiht worden. Am gastronomischen Konzept wurden kaum Änderungen vorgenommen. Denn heute wie am Eröffnungstag vor 50 Jahren, dem 2. Dezember 1971, ist die französische Küche das kulinarische Leitbild des Kult-Lokals. Seit Herbst dieses Jahres fungiert es unter dem neuen, frankophilen Namen „Tantris Maison Culinaire" und beherbergt in seinen Räumlichkeiten gleich zwei Restaurants.
Niemand konnte Anfang der 70er-Jahre voraussehen, dass sich das „Tantris" in vergleichsweise kurzer Zeit zu einem Mekka der deutschen Feinschmecker und zur Keimzelle des später viel besungenen Küchenwunders entwickeln würde. Die Rahmenbedingungen damals waren schlicht zu schlecht. Zwar gab es seit 1966 vor allem im frankreichnahen Badischen erste Restaurants, denen der in Frankreichs Gastro-Landschaft tonangebende Guide Michelin den ersten Stern verliehen hatte. In Deutschland war dieser jedoch noch weithin unbekannt und selbst in Köchekreisen als Reifenhersteller noch nicht als kulinarische Instanz akzeptiert. Der großen Mehrheit der Bundesbürger war das ohnehin egal, weil damals kaum jemand einen Gedanken an verfeinerte Tafelkultur verschwendete.
Eichbauer hasste die deutsche „Plumpsküche"
Selbst Wohlhabende verkehrten in legendären Lokalen wie dem „Erbprinz" in Ettlingen, „Katzenbergers Adler" in Rastatt, dem „Schwarzen Adler" in Vogtsburg oder dem „Maître" in Berlin nicht etwa mit kulinarischen, sondern vornehmlich mit gesellschaftlichen Hintergedanken. Ihnen Gerichte wie „Kalbsleber St. Tropez", „Froschschenkel Café de Paris" oder „Poulardenbrust Pompadour" schmackhaft machen zu wollen, wie es einige Küchen-Pioniere schon Ende der 60er-Jahre versucht hatten, erwies sich meist als aussichtslos. Damals galten in der Republik, selbst in den frühen Sterne-Restaurants, Rumpsteak, Kotelett oder Schnitzel mit Pommes und mehlschwitziger Pfefferrahmsauce als Gipfel der Gaumenfreuden. Die Gemüsebeilagen kamen meist aus der Dose oder wurden aus dem seinerzeit viel bewunderten Tiefkühlfach entnommen.
Für den erfolgreichen Münchner Bauunternehmer Fritz Eichbauer, der 2021 seinen 93. Geburtstag feiern konnte, war die deutsche „Plumpsküche" Anfang der 70er-Jahre ein einziges Gräuel. Nach eigenem Bekunden war er es leid, für raffinierte Gaumenfreuden ständig ins Ausland fahren zu müssen. Deshalb entschloss er sich kurzerhand, inmitten des von ihm gerade erschlossenen Neubaugebiets im Schwabinger Norden von München ein eigenes Restaurant zu etablieren. Da traf es sich gut, dass er von Paul Haeberlin, dem Chef des elsässischen Drei-Sterne-Nobel-Restaurants „Auberge de l’Ill", den Tipp bekam, dass es da einen interessanten Jungkoch namens Eckart Witzigmann gebe, der die ideale Besetzung für den Posten des Küchenleiters im projektierten Restaurant „Tantris" sein könnte.
Der 1941 geborene und in Bad Gastein aufgewachsene Österreicher konnte beste Referenzen aufweisen, seine Lehrjahre hatten ihn in hochdekorierte französische Häuser wie „Auberge de l’Ill", „Restaurant Paul Bocuse", „Le Moulin de Mougins" oder „Troisgros" geführt. Selbst in Übersee war sein herausragendes Talent am Herd während seiner Tätigkeit im Washingtoner „Jockey Club" nicht verborgen geblieben, weshalb er kurz vor einem lukrativen Engagement als Privatkoch der Familie Kennedy gestanden hatte, als ihn die Anfrage Eichbauers erreichte.
Anfangs sollte Witzigmann aber große Probleme haben, seine Interpretation einer gehobenen österreichischen Küche im französischen Stil unter den frühen Gästen des „Tantris" populär zu machen. Kaum jemand interessierte sich für Offerten wie Hechtklößchen, getrüffeltes Kalbsbries oder einen Coq au Vin. Stattdessen war Gebratenes vom mitten im Restaurant platzierten Holzofengrill der Renner, am liebsten noch blutige Steaks, Rinderfilets oder Lammkoteletts. Aber auch auf dem Rost zubereitete Fische waren sehr begehrt, wobei es allerdings häufig zu Reklamationen kam, weil die Besucher die Flossentiere nicht schön glasig, sondern durchgegart serviert haben wollten. Große Schwierigkeiten bereitete Witzigmann anfangs auch die Besorgung hochwertiger Grundprodukte und Frischlebensmittel, weil der Rungis Express mit Lieferungen vom Pariser Großmarkt erst 1978 gegründet wurde. Einiges, wie Gemüse und Obst, konnte er sich immerhin allmorgendlich auf dem Viktualienmarkt besorgen, was damals für einen Koch mehr als ungewöhnlich war.
Schuhbeck und Lafer lernten bei Witzigmann
1973 wurde das „Tantris" mit dem ersten Michelin-Stern ausgezeichnet, schon ein Jahr später folgte der zweite Etoile, womit Witzigmann zum ersten Zwei-Sterne-Cuisinier Deutschlands aufgestiegen war und den Kohlegrill endlich ausrangieren konnte. Der endgültige Durchbruch des „Tantris" wurde aber maßgeblich durch eine kulinarische Entwicklung außerhalb Deutschlands befördert. Denn in Frankreich hatten die Gastro-Journalisten Henri Gault und Christian Millau die „Nouvelle Cuisine" propagiert und 1973 deren zehn wichtigsten Gebote formuliert. Dazu gehörten kürzere Garzeiten der Grundprodukte, ausschließliche Verarbeitung marktfrischer und hochwertigster Lebensmittel oder Beseitigung der schweren Saucen.
Auch wenn sich der französische Großmeister Paul Bocuse gleich zum Sprachrohr der neuen Bewegung ernannt hatte, so war er doch keineswegs der Erfinder der Nouvelle Cuisine. Dieses Verdienst gebührt vielmehr den Gebrüdern Troisgros in Roanne, den Gebrüdern Haeberlin in Illhaeusern oder auch dem subtilen Michel Guérard in Eugénie-les-Bains. Plötzlich war alles, was Witzigmann im „Tantris" kulinarisch auf den Weg gebracht hatte, sozusagen der letzte Schrei und wurde daher hierzulande vom Magazin „Der Feinschmecker" gebührend gefeiert. Und erhielt dank des späteren Gastro-Papstes Wolfram Siebeck, der Witzigmann als „Karajan der Küche" adeln sollte, kontinuierlich publizistische Unterstützung.
Enorm hilfreich für den beginnenden Siegeszug der Nouvelle Cuisine in Deutschland sollte es zudem werden, dass mit dem ehemaligen Kunststoff-Fabrikanten Adalbert Schmitt ein zweiter vermögender Unternehmer sein Geld in den Aufbau eines Feinschmecker-Paradieses investiert hatte. Schmitt hatte seine am Mainufer gelegenen „Schweizer Stuben" in Wertheim-Bettingen schon am 1. Mai 1971 eröffnet. Doch erst ein Jahr später hatte er das Konzept weg von eidgenössischen Spezialitäten hin zu feinsten französischen Gaumenfreuden verändert. Dafür hatte er den aus einer badischen Gastronomenfamilie stammenden Jörg Müller verpflichtet, der schon wenig später seinen Bruder Dieter Müller mit ins Boot holen sollte. Der erste Michelin-Stern strahlte 1974 über den „Schweizer Stuben", 1977 sollte der zweite folgen.
Küchenlandschaft revolutioniert
Das „Tantris", das Münchner Lokal „Aubergine", mit dem sich Witzigmann 1978 selbstständig gemacht hatte und das schon ein Jahr später als erstes Restaurant in Deutschland mit dem dritten Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, sowie die „Schweizer Stuben" sollten die Kaderschmieden des hiesigen Küchenwunders werden. Die Witzigmann-Schüler Hans-Peter Wodarz, Alfons Schuhbeck oder Johann Lafer sollten später die deutsche Top-Gastronomie ganz entscheidend mitprägen. Aus den „Schweizer Stuben" waren nicht nur die Müller-Brüder als Spitzenköche hervorgegangen, sondern beispielsweise auch der Zwei-Sterne-Koch Hans Stefan Steinheuer oder ein gewisser Heiner Finkbeiner, der in Baiersbronn die „Traube Tonbach" zur Gourmet-Hochburg unter Leitung von Harald Wohlfahrt aufbauen sollte.
Die Maximen der Nouvelle Cuisine wurden in der deutschen Spitzen-Gastronomie nach und nach komplett adaptiert. Die Speisen wurden leichter und fettärmer, der gekonnte Einsatz frischer Kräuter und vormals kaum gebräuchlicher Gewürze erlaubte es, den Eigengeschmack hochwertiger Grundprodukte in den Vordergrund zu stellen. Das Küchenhandwerk wurde durch neue Zubereitungsarten wie Pochieren, Dämpfen oder Pürieren erweitert. Auf dem Teller wurde Überflüssiges verbannt, Purismus war ebenso angesagt wie ein Fokus auf die Optik. Eher seltene Auswüchse wie die Miniaturisierung der Gerichte oder eine wahre Orgie von Schäumchen, Mousses und Pürees wurden relativ schnell überwunden.
Die Nouvelle Cuisine hatte die deutsche Küchenlandschaft grundlegend revolutioniert und die Basis dafür geschaffen, dass heute hiesige Herdzauberer zu den besten der Welt gezählt werden. Womit es ihnen eindrucksvoll gelungen ist, ein Verdikt von Paul Bocuse aus den 70er-Jahren eindrucksvoll zu widerlegen: „Die Deutschen sind sehr gut, wenn sie einen Mercedes bauen, die Küche haben sie aber bestimmt nicht erfunden."