Kommt ein neuer Lockdown? Das ist die bange Frage, seitdem die vierte Welle der Pandemie das Land mit einer Wucht im Griff hält, die täglich mit neuen Rekordzahlen aufwartet. Dahinter stehen Menschenleben.
Binnen lediglich drei Tagen ist sichtbar geworden, wie dramatisch die Entwicklung geworden ist. Es waren ausgerechnet die Tage um den 25. November, dem Tag, an dem die Feststellung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite" (als juristisches Konstrukt) ausgelaufen und das neue Infektionsschutzgesetz in Kraft getreten ist.
Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zeichnete am Ende der Woche ein dramatisches Bild und kam zu dem Ergebnis: „Die Kontakte müssen runter, deutlich runter. Es nützt alles nichts." Das klingt bereits stark nach Vorbereitungen auf Maßnahmen Richtung Lockdown. Wenige Stunden vorher hatte die Divi kurzfristig ein Presse-Briefing anberaumt. Die Deutsche Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) informierte darüber, dass sie ihre ethischen Empfehlungen für Entscheidung „über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie" überarbeitet hat. Im Klartext: Es geht um Priorisierung und Triage, also im Zweifel Entscheidungen darüber, wer welche Behandlung bekommt – und wer nicht. Damit ist das zur realen Gefahr geworden, was eigentlich mit allen Kräften hätte vermieden werden sollen: eine Überlastung des Gesundheitssystems.
Am Tag vor diesem Presse-Briefing hatte die Bundeswehr bereits begonnen, Covid-Patienten aus Thüringen nach Niedersachsen zu verlegen. Mehrere Bundesländer hatten zuvor das „Kleeblatt"-Prinzip aktiviert, das Verteilung von Patienten ermöglicht, um Überlastungen an einer Stelle zu vermeiden. Hatte die Bundeswehr in den vorangegangenen Pandemiewellen noch bei der Kontaktnachverfolgung in den Gesundheitsämtern und schließlich in Impfzentren große Unterstützung geleistet, muss sie jetzt mit Spezialflugzeugen in den Einsatz. Bilder, die die ganze Dramatik der Entwicklung in wenigen Tagen zeigen.
Und dann kam auch noch Omikron
Gleichzeitig sorgt am Tag nach dem ersten Verlegungstransport und der Divi-Information die Meldung von Omikron für zusätzliche Brisanz. Die Weltgesundheitsorganisation hatte die neue Variante (B.1.529) als „besorgniserregend" eingestuft.
Am darauf folgenden Wochenende fliegt die Bundeswehr in einem Großeinsatz rund 50 Schwerstkranke aus Bayern, Thüringen und Sachsen in andere Bundesländer. Immer mehr Omikron-Fälle werden aus europäischen Nachbarländern gemeldet, es gibt einen ersten Verdachtsfall in Deutschland. Es gibt wieder erste Einreiseverbote, Länder werden als Hochrisikogebiet eingestuft.
Währenddessen wird in Deutschland weiter um eine Impfpflicht gestritten. Weihnachtsmärkte und Adventskonzerte werden reihenweise abgesagt, etliche finden aber dennoch statt, oft verlegt an Orte, wo sich eine 3G-Regel (nun aber meist eher 2G) einigermaßen kontrollieren lässt. Erst vor kurzem geschlossene Impfzentren bereiten die Wiederaufnahme ihres Betriebs vor, Testzentren, die im Oktober aufgelöst wurden, starten wieder.
Experten werden nicht müde, immer deutlicher eine drastische Reduzierung von Kontakten zu fordern, bis hin zu einem begrenzten, aber konsequenten und harten Lockdown. Die Diskussionen darüber klingen teilweise wie die von vor einem Jahr. Die Situation ist aber ungleich dramatischer.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief zur Vernunft auf und dazu, durch freiwillige Kontakteinschränkungen vielleicht doch noch einen Lockdown zu verhindern. Dass das diesmal gelingen sollte, ist allerdings noch unwahrscheinlicher als in den drei vorangegangenen Wellen. In dem Maß, wie Infektionszahlen und Hospitalisierungsraten jetzt geradezu explodieren, haben sich die Fronten der gesellschaftlichen Diskussion verhärtet, was kaum auf eine Zunahme an Vernunft schließen lässt. Wohl auch deshalb werden die, deren Warnungen lange Zeit ziemlich unbeachtet blieben, jetzt umso deutlicher.
Die Wissenschaftsakademie Leopoldina hält mehrwöchige Kontaktsperren auch für Geimpfte für notwendig. Geimpfte können schließlich auch Virusträger und damit ansteckend sein.
So gut wie alle führenden Virologen halten mindestens einen Lockdown für Ungeimpfte für unvermeidlich. Der Epidemiologe Alexander Kekulé geht deutlich weiter, fordert in einem Interview das Eingeständnis, „dass sich die vierte Welle ohne vollständigen Lockdown nicht mehr aufhalten lässt". Andere Virologen, die allesamt frühzeitig vor dieser Entwicklung gewarnt hatten, reden wie etwa Christian Drosten eher von einem „Shutdown", andere nennen es „Notbremse", und alle meinen im Grunde das Gleiche, nämlich ein bundesweit energisches Durchgreifen.
Länder haben zwar auch mit dem neuen Infektionsschutzgesetz eine Reihe von Möglichkeiten, auch lokale Maßnahmen zu ergreifen. Aber die wurden entweder gar nicht oder viel zu spät und dann auch noch halbherzig ergriffen. Das meinen nicht nur Kritiker, das räumen selbst Länderchefs zumindest zum Teil kleinlaut ein.
Selbst dort, wo es noch bis Mitte November nahezu entspannt ausgesehen hat, sind die Zahlen teilweise in rasantem Tempo auf Bundesdurchschnitt und darüber geschnellt. Den Länderchefs wäre jetzt natürlich eine bundeseinheitliche Regelung am liebsten gewesen. Im Infektionsschutzgesetz haben sie mit dem sogenannten Instrumentenkasten einige Möglichkeiten an der Hand, vor Ort zu reagieren. Ein Problem ist, dass etliche Maßnahmen aus der ehemaligen „epidemischen Lage von nationaler Tragweite" so nicht mehr zur Verfügung stehen. Deshalb auch das kurzfristiganberaumte Bund-Länder Treffen, bei dem sich alle auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stützen konnten.
Das hatte entschieden, dass die ehemalige Corona-Notbremse rechtens war, und dabei einige bedingungen für massive Einschränkungen formuliert. So dürfte es keine anderen leichteren Mittel geben, die genauso wirksam für den Schutz Menschen seien und Freiheiten dürften umso eher eingeschränkt werden, je kürzer die Maßnahmen dauert.