Viktoria Berlin ist weiter auf der Suche nach der Effektivität. Im Club hofft man auf den Lerneffekt bei den Spielern – und auf Neuzugänge in der Winterpause.
Die weiteste Dienstreise des Jahres wollte für Viktoria Berlin gar nicht mehr enden. Rund sieben Stunden waren die Drittliga-Fußballer mit dem Zug von Saarbrücken nach Berlin unterwegs, das zweimalige Umsteigen machte die Rückfahrt nochmal anstrengender. Die Laune der Himmelblauen war da aber ohnehin schon im Keller, denn die 0:2-Auswärtsniederlage beim 1. FC Saarbrücken drückte auf die Stimmung. Trainer Benedetto Muzzicato überwand sich aber trotzdem, klappte das Notebook auf und analysierte noch während der Zugfahrt die siebte Saisonniederlage. Er dürfte sich dabei gefühlt haben wie Bill Murray im Film-Klassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier".
Wie schon in den Wochen zuvor spielten die Berliner gut mit – belohnten sich dafür aber nicht. Der Grund lautete wieder einmal: fehlende Effektivität. Den Begriff hat Muzzicato in den letzten Wochen „totgeritten", wie man umgangssprachlich sagt, doch er trifft nun mal den Nagel auf den Kopf. „Ich wiederhole fast an jedem Wochenende immer dasselbe", sagte der Deutsch-Italiener: „Es tut mir leid für die Jungs, die Niederlage war nicht verdient, wenn man das ganze Spiel betrachtet. Aber am Ende zählt im Fußball die Effektivität."
Der Trainer ließ zuletzt nichts unversucht, um dieses große Manko des Aufsteigers zu beheben. Torschussübungen bis zum Umfallen? „Haben wir alles schon probiert", verriet Muzzicato. Gar nicht mehr thematisieren, um kein Kopfproblem zu bekommen? Auch das ist ein Ansatz des Coaches: „Ich glaube nicht, dass man das in der Woche zu sehr ansprechen muss. Irgendwann muss der Knoten platzen, damit wir uns für ein gutes Spiel belohnen."
Am besten schon im kommenden Heimspiel am Samstag (4. Dezember, 14.00 Uhr) im Jahnsportpark gegen Türkgücü München. Bei einer weiteren Niederlage würden die Münchner bis auf einen Punkt an Viktoria heranrücken – und die Abstiegszone immer bedrohlicher näherkommen. Es folgen die Spiele auswärts beim Tabellenzweiten SV Meppen und zu Hause gegen Viktoria Köln. Danach ist Zeit zum Verschnaufen und zum Analysieren sowie Nachjustieren. Bis dahin heißt es: Augen zu und durch.
Es scheint fast so, als wolle sich der taumelnde Drittliga-Neuling in die Winterpause retten. „Wir werden trotzdem weiterarbeiten und freuen uns auf die nächsten drei Spiele", sagte Muzzicato, „und dann schauen wir, was wir in der Winterpause verändern können, vielleicht auch personell, um eine gewisse Lockerheit dazuzuholen." Der 43-Jährige klang bei seinen Ausführungen so, als habe er sich bereits einen Spieler ausgeguckt, dessen Wechsel auch schon so gut wie fix sei. „Einen Spieler", konkretisierte Muzzicato, „der sich vielleicht gerade mit Erfolgserlebnissen einen Namen gemacht hat." Das sei „eine Idee, die man hat".
Input von Außen – das soll aber nur eine Lösung des Problems sein. Muzzicato muss es auch gelingen, die mentale Blockade seiner aktuellen Profis in den entscheidenden Spielszenen zu lösen. Gegen Saarbrücken, das zuvor drei Heimspiele hintereinander nicht gewinnen konnte, ließ zum Beispiel Torjäger Tolcay Cigerci in der 66. Minute eine Riesenchance zur 1:0-Führung aus, 13 Minuten später machte es Tobias Jänicke auf der gegenüberliegenden Seite besser. Der Anfang vom Ende. „Cigerci, Lucas Falcao, Pasqual Verkamp – ich weiß, dass diese Jungs es drauf haben", sagte Muzzicato. Nur die Stürmer zeigen es im Moment zu selten.
Für Cigerci war es ein komplett gebrauchter Tag. Der frühere Erst- und Zweitligaprofi, der nach einer wochenlangen Verletzungspause erst in der Vorwoche gegen die Würzburger kickers (1:1) ein grandioses Comeback inklusive eines Treffers gefeiert hatte, sah in der Schlussphase noch die Rote Karte wegen einer Tätlichkeit. Der einzige Spieler, den Muzzicato aufgrund seiner spielerischen Klasse als unersetzlich im Team erachtet, wird damit wieder wochenlang fehlen. Cigerci erwies seiner Mannschaft einen Bärendienst, denn der Platzverweis war vollkommen unnötig. Das Spiel war bereits entschieden, und seine Reaktion nach einem leichten Rempler von Luca Kerber übertrieben: Cigerci umklammerte den Gegenspieler und deutete gar einen Biss an.
Muzzicato setzt auf einen Lerneffekt
„Der Junge hat gar nicht so viel gemacht, aber Toli war dann so in dem Impuls drinnen, dass er dachte, er müsste sich irgendwie revanchieren", sagte Muzzicato in dem Versuch einer Erklärung: „Toli ist ein sehr emotionaler Spieler." Sicherlich spielte auch Frust bei der Aktion eine Rolle, schließlich hatte Cigerci nach der Einwechslung nicht seinen besten Tag erwischt. Zumindest zeigte der 26-Jährige hinterher Größe. „Er hat sich später entschuldigt und ist auch in die Kabine der Schiedsrichter gegangen", verriet Muzzicato.
Der Trainer verzichtete darauf, seinen Führungsspieler zu tadeln. Auch an die anderen Spieler richtete er – zumindest öffentlich – keine schärfere Kritik. Man habe ein „sehr gutes Auswärtsspiel" bei einem „sehr guten Gegner" gemacht, lobte Muzzicato die Profis – und dann auch sich selbst: „Der Matchplan ging auf." Allerdings nur bis zu dem Moment, in dem die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit gefragt war. Dann versagten den Himmelblauen wieder einmal die Nerven.
Dass Gäste-Trainer Uwe Koschinat die Berliner als höchst unbequemen Gegner preiste, entlockte Muzzicato nur ein gequältes Lächeln. Das hat er von den siegreichen Trainer-Kollegen zuletzt viel zu häufig gehört. „Im Moment können wir uns für die ganze Schulterklopferei nichts kaufen", sagte er. Von Panikmache oder gar Resignation ist der Coach aber meilenweit entfernt. Der herausragende Saisonstart mit Platz zwei nach acht Spieltagen habe in der öffentlichen Wahrnehmung ein wenig die Realitäten verdrängt, meinte Muzzicato: „Wir vergessen nicht, wo wir herkommen."
Und zwar aus der Regionalliga, aus einer achtmonatigen Spielpause wegen des coronabedingten Abbruchs der Aufstiegssaison. „Anschließend an jedem Wochenende als Aufsteiger mit hundert Prozent ins Spiel zu gehen, kostet viel mentale Kraft", erklärte Muzzicato. Damit sei die fehlende Kaltschnäuzigkeit eine Liga höher vielleicht zu erklären. Zu beheben ist sie nur mit Erfahrung. „Das kannst du nicht trainieren, da kannst du im Training hundertmal aufs Tor schießen", meinte Muzzicato, „dafür braucht man eine zweite Saison, hoffentlich bekommen wir diese."
Im Verein wird man trotz der Talfahrt nicht nervös, zumal das Team spielerisch nicht enttäuscht. „Ich bin auf das, was wir bislang gezeigt haben, sehr stolz", meinte auch Muzzicato, „wir spielen eine gute Runde mit einem sehr ansehnlichen Fußball." Wichtiger als der aktuelle Punktestand in der Tabelle sei ihm ohnehin, „dass die Mannschaft unsere Philosophie annimmt". Und dazu gehört auch der Lernwille. „Wir saugen alles auf und wollen es besser machen."