„Das Bundesverfassungsgericht hat weitreichendere Befugnisse als jedes andere auf diesem Planeten", betont Peter Müller. Der ehemalige Ministerpräsident des Saarlandes ist seit zehn Jahren Richter der zweiten Kammer des BVG und sprach kürzlich in einem Diskussionsforum zu 70 Jahren BVG.
Als das Bundesverfassungsgericht (BVG) im September 1951 seine Arbeit aufnimmt, ist das Grundgesetz, über dessen Einhaltung es wachen soll, schon mehr als zwei Jahre in Kraft. Dessen Artikel 93 weist dem neuen Gericht deutlich mehr Kompetenzen zu, als sie der Staatsgerichtshof der Weimarer Republik je hatte. „Eine Lehre aus dem Dritten Reich", wie Peter Müller bei einem Vortrag der saarländischen Unionsstiftung kürzlich betonte. Der ehemalige saarländische Ministerpräsident wurde vor genau zehn Jahren – im Dezember 2011 – vereidigt. „Die Schöpfer des Grundgesetzes wollten sicherstellen, dass die Grundlagen der Verfassung beachtet werden. Dafür gibt es zwei Kammern mit je acht Richterinnen und Richtern, die dem Bundestag, also dem Gesetzgeber, in den Arm fallen und sagen können ,Was Ihr da beschlossen habt, ist ungültig‘."
Kein Gericht hat mehr Befugnisse
Um die Details des Gerichtsaufbaus oder der Richterwahl, die im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt sind, hatte die Politik bis ins Jahr 1951 hinein gerungen. Erst in diesem Gesetz steht, dass das Gericht nicht nur Streitigkeiten zwischen Staatsorganen klären, sondern auch über Verfassungsbeschwerden entscheiden soll, die jeder Bürger erheben kann. Das gibt es zum damaligen Zeitpunkt nirgendwo sonst. Das Bundesverfassungsgericht wird damit zum Bürgergericht. „Das Bundesverfassungsgericht hat weitreichendere Befugnisse als jedes andere auf diesem Planeten", betont Müller – auch wenn allen Verfassungsgerichten weltweit gemein sei, den jeweiligen Gesetzgeber ein Stück weit zu kontrollieren. „Deshalb greifen autokratische Systeme stets erst die Verfassungsgerichtsbarkeit an", wie Müller erklärt. Dies lasse sich in Europa aktuell etwa an den Beispielen Polen und Ungarn sehr deutlich sehen.
Wie bereits erwähnt kann in Deutschland jeder Bürger das BVG als letzte Instanz des Rechtsweges anrufen. Entsprechend gehen jedes Jahr mehrere Tausend Anträge beim Bundesverfassungsgericht ein. „Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um Verfassungsbeschwerden", erklärt Müller. Meist hätten über diese Beschwerden schon mehrere Gerichte drübergeschaut, und deshalb würde auch die Großzahl der Beschwerden abgewiesen. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass bis Ende 2020 insgesamt 249.023 Verfahren in Karlsruhe anhängig wurden. Mehr als 96 Prozent davon sind, wie von Müller erwähnt, Verfassungsbeschwerden, von denen seit 1951 lediglich 2,3 Prozent erfolgreich waren. 155 Bände mit Entscheidungen wurden nach seiner Aussage bis heute vollgeschrieben. „Die längste stammt übrigens von mir und betrifft das Urteil im möglichen NPD-Verbot", wie er erklärt.
Das BVG ist ein Verfassungsorgan, das gleichberechtigt neben Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung steht. Es ist unabhängig, untersteht keinem Ministerium und ist mit einem eigenen Etat finanziell eigenständig. Erst seit 1963 bestehen die beiden Senate aus je acht Richtern, zuvor waren die beiden Kammern mit zwölf Richtern besetzt. Die Amtszeit eines jeden Richters ist auf zwölf Jahre begrenzt und endet spätestens mit dem 68. Geburtstag. Anfangs überwiegend männlich besetzt, hat sich auch das BVG verändert. Die Zeiten, in denen spöttisch von „Schneewittchen-Senaten" – eine Frau, sieben Männer – gesprochen wurde, sind längst vorbei. Seit 2020 sind die Frauen in der Überzahl: vier im Ersten, fünf im Zweiten Senat, darunter Vizepräsidentin Doris König. Gerichtspräsident Stephan Harbarth ist seit Juni 2020 im Amt.
Ein Drittel der beiden Senate müssen laut Müller Berufsrichter sein, die größte Gruppe sei die der Hochschullehrer, meist Staatsrechtler. „Daneben gibt es sozusagen die freien Radikale wie mich, Politiker, Rechtsanwälte und Ähnliche." Wie immer, wenn wie Müller ein Politiker zum Verfassungsrichter gewählt wird, gibt es natürlich Diskussionen. Schließlich war Müller langjähriger CDU-Mann und als Ministerpräsident des Saarlandes aktiver Politikgestalter. Da liege es doch nahe, dass er als Richter im Sinne seiner früheren politischen Entscheidungen agiere. „Würde ich dies wirklich tun, würde die Akzeptanz im Kreise der anderen Verfassungsrichter augenblicklich gegen null sinken", betont Müller. „Verfassungsrichter müssen mit Zwei-Drittel-Mehrheit ins Amt gewählt werden und dürfen keine politische Agenda verfolgen. Würde man dies einem Politiker unterstellen, würde er erst gar nicht gewählt werden." Müller selbst wurde 2011 einstimmig vom Bundesrat, also der Länderkammer aller Bundesländer und über alle Parteigrenzen hinweg, zum Richter in den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts gewählt.
BVG kann nicht selbst aktiv werden
„Das riesige Privileg, das man als Verfassungsrichter genießt, ist Zeit", betont Peter Müller. „Also genau das, was Politik nicht hat. Niemand kann den Verfassungsrichtern Termine vorgeben. Beratungen finden hinter verschlossenen Türen satt. Wenn in der Sache hart gestritten wird, kriegt das draußen niemand mit." Es sei – anders als in der Politik – auch nicht schlimm, wenn man dabei einmal seine Meinung ändere. „Eine Entscheidungsfindung dauert so lange wie sie dauert."
Ganz aktuell zu sehen war dies bei der Entscheidung des BVG zu den Grundrechtsbeschränkungen seitens der Bundesregierung in der Corona-Pandemie. Immer wieder wurde von außen kritisiert, dass das BVG dazu nicht Stellung nehme. Tatsächlich nahmen sich die Richter nur ausreichend Zeit, Für und Wider der Einschränkungen genauestens abzuwägen und dann im November ihre Einschätzungen zu veröffentlichen. Dort wies das BVG Klagen gegen Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen aus dem Frühjahr ab und verschaffte der Bundesregierung damit nachträglich Rechtssicherheit. Gleichzeitig zogen die Richter mit ihrer Erklärung auch klare Grenzlinien und formulierten ein ausdrückliches Recht von Kindern auf Bildung und Beschulung. Der Richterspruch ist also keineswegs ein Freibrief für willkürliche Eingriffe in Grundrechte. Bundesweite Einschränkungen des öffentlichen Lebens müssten zeitlich befristet sein, regional ausdifferenziert werden und sich am Pandemiegeschehen orientieren, schrieben die Richter der Politik ins Stammbuch.
Durch seine Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen sieben Jahrzehnten die Grundrechte stets mit Leben gefüllt und dem demokratischen Verfassungsstaat seine Gestalt gegeben. Das Volkszählungs-Urteil von 1983 etwa umreißt ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Brokdorf-Beschluss von 1985 zu verbotenen Anti-Atomkraft-Demonstrationen gilt als wegweisend für die Versammlungsfreiheit. Das Gericht begleitete die deutsche Teilung und Wiedervereinigung und später das Zusammenwachsen Europas. Auch nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sorgte Karlsruhe dafür, dass die Politik im Namen der Sicherheit nicht übers Ziel hinausschießt.
Selbst aktiv werden kann das BVG allerdings nicht. Es muss angerufen werden und kann sich nur mit dem befassen, was an das Gericht herangetragen wird. So alt wie das BVG selbst ist immer wieder die Diskussion, ob das Bundesverfassungsgericht selbst politisch gestaltet. Vom Auftrag und dem Selbstverständnis her müsste die Frage eigentlich kategorisch mit Nein beatwortet werden. Als Verfassungsorgan ist es eigentlich Wächter selbiger und nicht Gestalter. Doch auch wenn die Verfassung den Rahmen vorgibt, muss das BVG die äußeren Leitplanken festlegen, und wird damit doch auch – gewollt oder nicht – zum politischen Gestalter. „Insofern sind es immer legitime Debatten, ob das BVG mit seinen Entscheidungen Grenzen überschritten oder sich zu sehr aktiv in Politik eingemischt hat", betont Peter Müller.
Großes Vertrauen in der Bevölkerung
In der Bevölkerung genießt das Bundesverfassungsgericht jedenfalls ein extrem hohes Vertrauen und eine große Akzeptanz. Was umgekehrt aber nicht bedeutet, dass alle Entscheidungen kritiklos hingenommen werden. Die Entscheidung etwa, dass ein Kreuz oder Kruzifix in den Klassenzimmern einer staatlichen Schule gegen die Religionsfreiheit verstoße, sorgte 1995 für einen riesigen Aufschrei und für unzählige Protestbriefe ein. Auch der „Soldaten sind Mörder"-Beschluss, der im selben Jahr entschieden wurde, sorgte für heftige und kontroverse Diskussionen im ganzen Land. Zuletzt sorgte im vergangenen Jahr das Urteil zur Sterbehilfe für Kontroversen. Das BVG wird auch dann angerufen, wenn es um das mögliche Verbot von Parteien geht, die mutmaßlich nicht die Normen der Verfassung des Landes umsetzen. So wurden etwa 1952 die Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten. Im Falle der NPD stellte des BVG 2017 zwar fest, dass die rechtsextreme Partei verfassungsfeindlich sei, aber andererseits zu schwach und unbedeutend, um sie aufzulösen.