Überlange Ärmel, die locker bis zu den Kniekehlen reichen können, gehören wohl zu den ungewöhnlichsten Trends dieser Wintersaison. Sie werden häufig als feminines Outfit-Statement gefeiert, obwohl sie alles andere als praktikabel sind.
Als vor rund zwei Jahren die Corona-Pandemie begann, hatten einige Designer ungewollt und unverhofft mit ihren Masken und Balaclavas ins Schwarze getroffen. Der Run auf diese plötzlich nicht nur modischen, sondern auch Schutz vor Viren versprechenden Accessoires hielt jedoch nur so lange an, bis die internationalen Gesundheitsbehörden das Tragen von deutlich wirksameren FFP2-Masken angeordnet hatten. Die sind längst zu einem nervenden Alptraum geworden und deren baldiges Verschwinden wird von den meisten Bürgern weltweit innigst herbeigesehnt. Auch das ständige Desinfizieren der Hände beim Shoppen oder Einkaufen haben viele inzwischen satt. Doch diesbezüglich haben diesen Winter eine ganze Reihe von Marken für Abhilfe gesorgt. Denn wer sich nun eine Bluse, einen Pullover oder eine Puffer-Jacke mit überlangen Ärmeln zulegt, braucht mit den Fingern nicht mehr in Kontakt mit potenziell virenbehafteten Oberflächen zu kommen. Das ist zwar nur eine nicht ganz ernst zu nehmende Erklärung für diesen neuen und ziemlich bizarren Fashion-Trend, aber eine andere einleuchtende oder sinnvollere Erklärung für diese vermeintliche Innovation dürfte sich kaum finden lassen.
„Was an den Hosenbeinen abgeschnitten wird, wird an den Ärmeln verlängert", so seinerzeit die „Neue Zürcher Zeitung". „Die überlangen Ärmel, egal ob an Blusen, Jacken oder Pullovern, wirken cool. Sie lassen das Styling gekonnt ungewollt wirken." Die Coolness konnte sich uns zwar nicht erschließen, aber das Ungewollte schon, auch wenn das Outfit dabei leicht den Eindruck erwecken mochte, als ob sich die Trägerin beim Kauf in der richtigen Größe geirrt hatte. „Harper’s Bazaar" feierte die Super-Long-Sleeves als „so kunstvoll und opulent wie eine Schleppe". Nicht weiter schlimm also, dass sich die Ärmel weit über die Hände hinaus im Extremfall gleichsam bis zum Boden hin ausbreiten können. „Mode muss heutzutage, um sich halten zu können, und bis in das Alltagsleben des Einzelnen vorzudringen, vor allem eines: praktisch sein", so „Harper’s Bazaar", „sie muss die Fahrt mit dem Fahrrad ins Fitnesstraining, aber auch den langen Tag am Schreibtisch mitmachen. Doch gerade aktuell, in einer Zeit, in der niemand wirklich weiß, wie unsere Zukunft aussehen wird und wie es weitergeht, kann die Mode als Flucht dienen. Denn trotz der gewünschten Praktikabilität ist sie doch vor allem immer noch eines: eine textile Kunst, die zum Träumen einlädt". Viel mehr als Tagträumen nachzugehen wird den Damen im Büro in Klamotten mit überlangen Ärmeln auch kaum möglich sein. Es sei denn, es gelingt ihnen, die ihre Arbeit am PC quasi ausschließenden Stoffballen dauerhaft über den Handknöcheln zu befestigen.
Dass die Teile nicht unbedingt alltagstauglich sind, hatten immerhin auch die Magazine „Grazia" oder „Elle" konstatieren müssen. „Zugegeben: Die Items sind nicht ganz leicht zu tragen", so die „Grazia", „da die langen Ärmel schnell mal im Lunch enden oder einfach bei der Arbeit am Computer stören, doch am Abend in der Bar machen sie richtig was her". Oder die „Elle": „Ganz praktisch ist dieser Trend nicht. Beim Türöffnen müssen wir auf einen netten Herrn mit Anstandsmanieren hoffen; will man mit Flecken nicht direkt verraten, was es zu Mittag gab, sollte man mit sehr langen Essstäbchen speisen. Aber überlange Ärmel haben durchaus auch jede Menge Vorteile. Durch ihre auffällige Erscheinung sind sie der ideale Ersatz für Accessoires, und auch Handschuhe können getrost zu Hause bleiben. Extra long sleeves sind ganz für sich alleine ein absoluter Eyecatcher und verleihen jedem Teil augenblicklich einen Couture-Effekt …Reichen die Sleeves mindestens bis zur Mitte des Oberschenkels, haben sie ihre ideale Länge erreicht."
Simons greift den Trend in seiner Kollektion auf
Die Zitate dürften für sich sprechen. Ladys, die sich dennoch zum Kauf der neuen Trendpieces mit XXL-Ärmeln entscheiden, dürften damit hinreichend vorgewarnt sein. Das Magazin „Grazia" spricht für die aktuelle Wintersaison von der „Attraktion des Unpraktischen". Und zieht gar Parallelen zu den höhenmäßig eigentlich untragbaren Plateau-Boots von Marc Jacobs aus der Winterkollektion 2016/2017, die seinerzeit nur von keiner Geringeren als Lady Gaga auf dem Catwalk präsentiert werden konnten. Oversize mag ja schön und gut sein, aber ob dafür unbedingt auch noch die Ärmel herhalten müssen, sei mal dahingestellt. Selbst die „Vogue" scheint derzeit noch ziemlich unsicher zu sein, ob sie ihren Leserinnen zu diesen Teilen raten soll. Bei ihr wurden diesbezüglich Erinnerungen an die Grunge-Momente von Marc Jacobs aus den frühen 90er-Jahren wach. Selbst eine kollektive Chirophobie der Designer vor Virenbefall der Hände hält die „Vogue" als Ursprung des Trends für möglich.
Protagonist ist Raf Simons, der seit seinem Aufstieg zum Co-Kreativchef bei Prada in der Branche noch größeres Ansehen genießt. Simons hat fast sämtliche Teile seiner aktuellen Winter-Eigenmarken-Kollektion mit überlangen Ärmeln ausstaffiert, von Blusen über Pullover, beispielsweise in Grau und Westen bis zu Stepp- oder Puffer-Jacken. Sogar bei Prada hat er ein Jacquard-Midi-Kleid mit long sleeves lanciert. Bei Dolce & Gabbana ist es ein Dress in der gleichen Länge aus Mesh und Crepe-Stoff, bei Petar Petrov ein Kaschmirkleid, bei Fendi ein Streifenkleid. Bei Max Mara kann sich frau für ein cremefarbenes Kleid oder für jede Menge Strickpullover mit XXL-Ärmeln entscheiden. Bei Comme des Garçons wird das Ganze Richtung kunstvoll Kurioses gesteigert, beispielsweise mit einer weißen Riesenbluse samt verlängerten Ärmeln, an die zusätzlich noch eine schwarze, bis zum Boden reichende Saumverlängerung angenäht wurde. Ähnlich dekonstruktiv die Umsetzung bei Acne Studios in beigefarbenem Strick und bei einem Maxikleid, bei Ottolinger in einem Safari-Strick-Wüstenlook, bei Loewe in einem Pulli samt freizügigem Dekolleté oder bei Marni in einer knallbunten Strick-Kombi von Hose und Oberteil. Schlichte weiße Blusen haben beispielsweise Sportmax, Philosophy oder Puppet and Puppets mit der Ärmel-Innovation aufgepeppt. Bei Rick Owens oder Chloé sind es Stepp- beziehungsweise Puffer-Jacken. Bei Erdem eine schwarze Strickweste, bei Melitta Baumeister eine Strickweste in Schwarz-Weiß, bei Thom Browne oder bei Preen by Thornton Bregazzi ein weißer Grobstrick-Pullover, bei Ellery ein gelber Strick-Turtleneck, bei Balmain ein bauchfreies Silber-Glitzer-Strick-Oberteil, bei Yohji Yamamoto ein Blazer, bei Jason Wu ein Rollkragen-Pullover, bei Giorgio Armani ein Samtjäckchen samt silbrig-funkelnder Armverlängerung …