Viel Zeit für Einarbeitung hatte der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach nicht. Nach kurzer Bestandsaufnahme hat der Kampf gegen die neue Variante oberste Priorität.
Auf ein Neues. Gleich zu Beginn des Jahres wieder das bekannte Ritual: Bund und Länder treffen sich einmal mehr zu Beratungen über Maßnahmen gegen die Pandemie. Soweit der äußere routinierte Ablauf seit zwei Jahren. Ende Januar 2020 gab es die ersten bestätigten Fälle in Deutschland, seither ist das Land im Krisenmodus. Seit vier Wochen aber unter neuen Vorzeichen.
Der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat als eine der ersten Maßnahmen einen Expertenrat zusammengestellt. Ein Ziel dabei, neben der Bündelung der Kompetenzen aus den verschiedenen Fachbereichen die bislang übliche Vielstimmigkeit in der Corona-Diskussion, die vor allem vor jedem Bund-Länder-Treffen fröhliche Urstände feierte, zu kanalisieren.
Kompetenzen sollen gebündelt werden
Kurz bevor Lauterbach zum Gesundheitsminister berufen wurde, haben Meldungen über die Omikron-Variante aufgeschreckt. Gerade mal eine Woche im Amt, warnte der Minister angesichts der schnellen Verbreitung der neuen Variante Mitte Dezember vor einer „fünften Welle", um dann unablässig über die Weihnachtstage für die Impfkampagne zu werben. „Wir müssen so viel boostern wie möglich", wiederholte er immer wieder, warb gleichzeitig für Erstimpfungen von Menschen, die sich bislang noch nicht impfen ließen. Mit Impfungen sei die Zahl möglicher Toten in der Omikron-Welle deutlich zu reduzieren.
Kanzler Olaf Scholz hatte das Ziel von 30 Millionen Impfungen noch bis Ende vergangenen Jahres ausgegeben, Lauterbach konnte bereits an Weihnachten Vollzug melden. Und das, obwohl zunächst eine Inventur eine drohende Knappheit an Impfstoffen hatte befürchten lassen.
Die ständig besorgten Mahnungen sind auch im Amt ein Markenzeichen des neuen Ministers geblieben. Die Lage sei „sehr, sehr ernst", betonte er zum Jahresbeginn. Zu dieser Zeit zeigten die Inzidenzzahlen erstsmals wieder nach oben, nachdem sie zuvor trotz erster Omikron-Fälle stetig geringer geworden waren. Ein Paradox in der Padnemie. Die Entwicklung ist zeitverzögert.
Vor Weihnachten zeigten die Entwicklungen beispielsweise in England oder Dänemark, dann auch in Portugal, Frankreich und anderen Ländern, die nach und nach zu Hochrisikogebieten erklärt wurden, was mit Omikron droht. Deutschland schien davon verschont, selbst Lauterbach schlug für seine Verhältnisse zurückhaltend-optimistische Töne an. Die bezogen sich allerdings weniger auf die zu kurzfristige Entwicklung, als darauf, dass noch im Frühjahr mit an die neue Variante angepassten Impfstoffen und einem Medikament zu rechnen ist. Vorher ist erst aber weiter Krisenmanagement gefragt.
Dass die Kennzahlen der Entwicklungen über die Feiertage nur bedingt aussagekräftig sind, darauf hatten Experten schon früh hingewiesen, von einem „Blindflug" war dabei die Rede. Weniger Tests, verzögerte und womöglich unvollständige Datenweitergabe waren absehbar. Nicht umsonst hatten sich Bund und Länder erst für Ende der ersten Januar-Woche verabredet in der Erwartung, dann einen verlässlicheren Überblick zu haben. Was aber bereits bekannt war, war die schon beschriebene Entwicklung bei den Nachbarn.
Die in Stockholm ansässige Europäische Gesundheitsbehörde hatte bereits Mitte Dezember vorausgesagt, dass Omikron schon bald zu Jahresbeginn europaweit die dominierende Variante sein würde und damit die Delta-Variante verdrängt hätte. „Die kommenden Monate werden schwierig", warnte EU-Gesundheitskommissarin Stell Kyriakides.
Das Tückische an Omikron: Die Verläufe sind, soweit bislang bekannt, weniger schwer, aber die Verbreitung ist rasant. Ein weiteres Paradoxon der Pandemie: Womöglich steigt zwar nicht die Zahl schwerer Fälle, die Krankenhäusern Belastungen bringen würde. Trotzdem muss damit gerechnet werden, schlicht, weil von der rasanten Ausbreitun auch das Personal in größerer Zahl betroffen sein könnte. Es drohen also personelle Ausfälle, die das Gesundheitssystem an den Rand der Belastbarkeit bringen könnte. Das gilt dann im Übrigen auch für alle anderen sensiblen Bereiche der Daseinsvorsorge. Sicherheitsrelevante Bereiche waren bereits aufgefordert, ihre Pandemiepläne zu überarbeiten.
In einer solchen Situation sind auch Modellierer gefragte Experten, also Wissenschaftler, die mit Modellen versuchen, Szenarien möglicher Entwicklungen zu beschreiben. Zu ihnen gehört Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie an der Uni des Saarlandes. Lehr ging davon aus, dass es zunächst einen leichten Anstieg der Fallzahlen geben würde, dann aber alles sehr schnell gehen könnte. In bestimmten Szenarien könnten fünf bis sechs Millionen Menschen gleichzeitig erkranken. Das würde wiederum beträchtliche Teile des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft lahmlegen können.
Erwartungen an Lauterbach sind hoch
Wenig verwunderlich, dass Überlegungen zu einem neuerlichen Lockdown, und zwar ähnlich konsequent wie zu Beginn 2020, nachgedacht wurde, ebenso darüber, ob Schulen nach den Weihnachtsferien wieder Präsenzbetrieb aufnehmen sollten. Scharfer Lockdown und Schulschließlungen blieben aber zunächst tabu. Schulen solange offen zu halten, wie irgend möglich hat nach den Erfahrungen der Vergangenheit klar überwiegend Priorität.
EU-weit hatten viele Länder bereits vor Weihnachten verschärfte Maßnahmen bis hin zu einem fast weitgehenden Lockdown ergriffen. In Deutschland verständigte man sich erst einmal darauf, ab dem 28. Dezember Maßnahmen zur Kontaktreduzierung greifen zu lassen.
Seit Anfang des Jahres geht Frankreich einen neuen Weg. Trotz einer Sieben-Tage-Inzidenz von fast 1.500 (Anfang Januar) wurden Quarantänevorschriften geändert, die Quarantänezeit von ursprünglich 14 auf sieben Tage halbiert. Als Grund nannte Gesundheitsminister Olivier Véran, man wolle einen Zusammenbruch verhindern. Wenn ganz Frankreich in Quarantäne sei, herrsche Stillstand.
Deutschland war zu diesem Zeitpunkt mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 220 weit von französischen Verhältnissen entfernt, Modellierer halten aber auch hierzulande Inzidenzraten von 1.000 in den nächsten Wochen für möglich. Entsprechend zeichnete sich im Vorfeld des ersten Bund-Länder-Treffens in diesem Jahr ab, dass man sich an Frankreich hinsichtlich der Quarantäneregelungen anlehnen würde. Der Minister kündigte jedenfalls an, dass es „auf jeden Fall neue Beschlüsse geben" werde, sowohl für Quarantäne als auch Kontaktbeschränkungen.
Lauterbach blieben in der Pandemie nicht die früher üblichen 100 Tage. Sein Agieren als Minister stand vom ersten Tag auf dem Prüfstand, wegen der aktuellen Entwicklungen in Sachen Omikron und Impfen, aber auch wegen seiner früheren Rolle als oberster Mahner der Republik. So zumindest kam er in seinen zahlreichen Talkshow-Runden vor. Dass er deswegen überhaupt erst Minister geworden sei, wies er natürlich strikt zurück. Dass er dennoch 2021 Talkshow-König war (Auswertung „Meedia") hat naturgemäß mit der aktuellen Entwicklung und Corona als beherrschendem Thema auch im vergangenen Jahr zu tun, ganz sicher aber auch mit seiner Kompetenz.
Entsprechend hoch waren und sind auch die Erwartungen an den Minister, der seine neue Rolle schnell gefunden hat. Es ist nicht mehr nur der Mahner. Er versucht zu motivieren (Impfen), Perspektive zu geben (Medikamentenzulassung), und die Debatten soweit möglich zu versachlichen (Expertenrat). Das Ganze jetzt im Spagat der Regierungsverantwortung in einer Koalition, in der andere Partner durchaus andere Ansätze haben. Es bleibt eine Gratwanderung in den nächsten Wochen angesichts der prognostizierten Entwicklung in Sachen Omikron. Und es wird wohl nicht die letzte Variante sein, mit der das Virus die Welt in Atem hält.