Oder: Marten und Emily in der Schule des Lebens
Im Lateinunterricht wurde einem früher eingebläut, dass man nicht für die Schule, sondern für das Leben lerne. Lang ist’s her, heute werden die Kinder im Straßenalltag erzogen und zwar meist von besorgten Nerd-Müttern. Dazu folgende Geschichte, die sich bei vielen so oder so ähnlich in jeder beliebigen Stadt, an jeder beliebigen Straße der Vorstadt mit Fußgängerampel hätte abspielen können.
Ein Mensch will nach langer Geburtstagsfeier am späten Vormittag das fällige Leergut zum nächsten Glas-Sammelcontainer bringen. Der Weg dorthin führt ihn über eine Straße mit Fußgängerampel. Die Ampel steht auf Rot. Er hätte natürlich auf Grün warten oder rechts oder links in gebührender Entfernung von der Ampel über die Straße gehen können, denn weit und breit war kein Auto oder Ähnliches zu sehen. Stattdessen querte er übernächtigt die völlig unbelebte Straße bei Rot.
Hätte er besser nicht getan, denn er ist nicht alleine unterwegs. Am anderen Ende des Zebrastreifens hat sich eine Mutter mit Lastenrad aufgebaut, auf dessen Ladefläche zwei halbwüchsige Kinder sitzen, die den Entgegenkommenden mit großen Augen anstarren, als sei er E.T.
Die Frau empfängt ihn streng mit den Worten: „Sie wissen schon, dass man bei Rot nicht über die Straße gehen darf. Das gibt ein ganz schlechtes Beispiel für die Kinder, wenn wir Erwachsene uns daran nicht halten!" Der Mensch antwortet verdattert: „Ja, das weiß ich natürlich, das ist richtig. Ich hätte stehen bleiben müssen, aber ich war in Gedanken und habe nicht daran gedacht. Das tut mir natürlich leid." Er beugt sich angestrengt lächelnd zu den Kindern und will eilig davon.
Doch er hat die Rechnung ohne die strenge Rammbock-Mutter gemacht. „Marten und Emily", sagt sie zu den Kindern. „Das ist ein ganz böser Mann. Er kennt die Regeln und hält sich nicht dran. Schaut ihn euch an! So sehen böse Menschen aus." Der Rot-Ampel-Sünder stutzt verdaddert: „Ich bin gar nicht böse, ich habe im Moment nur vergessen, dass man bei Rot nicht über die Straße gehen darf." Daraufhin die Mutter: „Das sagen alle. Wer sich aber nicht an die kleinen Regeln hält, dem sind die großen auch egal. Wer weiß, was Sie sonst alles treiben." Grimmig dreinblickend fährt sie ihn weiter an. „Männer wie sie glauben, sie könnten sich alles erlauben. Emily, schau ihn dir an, das sind gefährliche Männer."
Emily schaut überhaupt nicht furchtsam, sondern eher interessiert. Der Mann versucht zu punkten und erklärt: „Ich war auf dem Weg zum Altglas-Container, Flaschen wegbringen, für die Umwelt was Gutes tun."
Das kommt der Frau gerade recht. „Von wegen was Gutes tun! Wahrscheinlich sind sie auch eines von den Umweltschweinen, die die grünen Flaschen in die Löcher für die Braunen stopfen und Plastik unters Altpapier mischen. Und volle Flaschen holen sie vermutlich mit ihrer Dreckschleuder von SUV vom billigsten Supermarkt."
„Welchen SUV fährt denn der Mann?", will jetzt Marten wissen, der beim Wort SUV plötzlich munter wird. Der Mann wehrt sich: „Ich habe gar keinen SUV, sondern fahre nur Fahrrad oder mit Öffentlichen und der Bahn. Außerdem trenne ich mein Leergut strikt nach Glasfarbe." Wie zum Beweis öffnet er den mitgeführten Plastikbeutel und hält ihn der Frau hin. „Schauen Sie, nur grüne und weiße Flaschen. Alles leicht zu trennen!".
„Das ist ja noch schlimmer", giftet die Mutter. „Lauter Weinflaschen. Marten und Emily, er ist auch noch Alkoholiker, und das am frühen Vormittag. Kinder schaut ihn Euch genau an. So sehen Männer aus, die keine Regeln kennen und glauben, sich alles erlauben zu können. Vermutlich auch bei Frauen. Weil er Alkoholiker ist, hat er auch keinen Führerschein mehr. Nur solche Menschen gehen bei Rot über die Straße. Lasst euch das eine Lehre sein, nehmt euch vor solchen Beispielen in Acht!"
Der Mann gibt auf, geht wortlos kopfschüttelnd seiner Wege. Die Rammbock-Mutter setzt ihr Lastenrad in Bewegung und überquert bei Grün die Straße – maliziös lächelnd und sehr mit sich zufrieden: Soeben hat sie ihren Kindern das geordnete Leben am lebenden Beispiel wieder etwas nähergebracht.