Nach der erfolgreichen Saison 2021 mit sechs Turnier-Siegen, Olympia-Gold, dem Triumph bei den ATP Finals und Platz drei der Weltrangliste möchte sich Alexander Zverev 2022 endlich den Traum vom ersten Grand-Slam-Titel erfüllen. Am liebsten gleich bei den Australian Open.
Ein klares 0:11 – in Worten: kein Sieg, dafür elf Niederlagen, so lautet aus Alexander Zverevs Sicht die ernüchternde Seuchen-Bilanz gegen Top-Ten-Spieler bei Grand-Slam-Turnieren. Bislang war für Deutschlands besten Crack seit den glorreichen Zeiten eines Boris Becker immer früh Endstation. Dieser war als letzter deutscher Grand-Slam-Triumphator 1996 bei den Australian Open erfolgreich. Zverev schien immer dann zu scheitern, wenn es bei den im Welttennis am höchsten und prestigeträchtigsten eingeschätzten Veranstaltungen ums Ganze gegangen war, wenn ein Sieg nicht mehr nur über zwei Gewinnsätze erzielt werden konnte, sondern in den körperlich so belastenden drei Gewinnsätze-Matches. Denn im Turnierverlauf der vergangenen Jahre hatten sich seine Wege irgendwann mit einem Spitzenspieler gekreuzt – ob bei den Australian Open, French Open, in Wimbledon oder bei den US Open.
Besonders ärgerlich war das für Zverev natürlich 2020 gewesen, als er ausgerechnet im Finale der US-Open auf den Österreicher Dominic Thiem getroffen war und diesem nach einer 2:0-Führung doch noch in einem engen Fünf-Satz-Match unterlegen war. Dem gleichen Gegner hatte er sich schon Anfang 2020 bei den Australian Open bei seinem ersten Grand-Slam-Halbfinal-Einzug in vier Sätzen geschlagen geben müssen. Bei den French Open 2021 scheiterte Zverev im Halbfinale am Griechen Stefanos Tsitsipas. Nach seinem Olympia-Sieg in Tokio zerstörte der serbische Weltranglisten-Erste Novak Djokovic bei den US Open Zverevs Traum von seinem ersten Grand-Slam-Triumph, obwohl das hochklassige Fünf-Satz-Halbfinale mit etwas Glück auch zu Gunsten des Deutschen hätte ausgehen können.
„New York hat gezeigt, dass Alexander Zverev es mit den ganz Großen im Tennissport weiterhin nicht aufnehmen kann", so das fraglos etwas vorschnelle Resümee des „Kicker" von Mitte September 2021. Denn dessen Triumph bei den ATP Finals in Turin im November 2021 (nach 2018 schon sein zweiter Sieg bei einem ATP-Finale) schien das Statement schon deutlich zu widerlegen. Immerhin waren in Turin die besten acht Spieler der Saison am Start. Zudem war es dem Deutschen gelungen, mit Djokovic sowohl den Weltranglistenersten im Halbfinale als auch die Nummer zwei, Daniil Medwedew aus Russland, im Finale zu bezwingen – was zuletzt bei der inoffiziellen Weltmeisterschaft der Tennisprofis Andre Agassi vor 31 Jahren gelungen war. Sechs Turniersiege in der Saison 2021 konnte Zverev für sich entscheiden – das war keinem anderen Player gelungen. Somit konnte er sich auf der ATP-Weltrangliste bis auf den dritten Platz verbessern.
„Alexanders erfolge sind großartig"
Sein Selbstbewusstsein war natürlich auch gesteigert durch seinen Olympiasieg, bei dem er im Halbfinale den „Joker" ausgeschaltet hatte. Und nach seinem ATP-Final-Triumph war er innerlich so gestärkt, dass er gleich nach Turin eine Kampfansage für das Jahr 2022 an die Konkurrenz gerichtet hatte. Er wolle in der kommenden Saison unbedingt sein erstes Grand-Slam-Turnier gewinnen, „sich den Arsch aufreißen, dass es passiert", und zugleich einen Angriff auf die Weltranglisten-Position eins starten. Schon der Gewinn eines Grand-Slam-Highlights dürfte allerdings schwer genug werden. Dieser Meinung ist zumindest Deutschlands frühere Tennis-Ikone Michael Stich. Der Wimbledon-Held von 1991 brachte es jüngst auf den Punkt: „Alexanders Erfolge sind großartig. Ein Grand-Slam-Titel ist aber sicherlich höher zu bewerten, da man sich über zwei Wochen in einem 128er-Feld beweisen muss." Aber um dem „Joker" tatsächlich auf die Pelle rücken zu können, dem er hochachtungsvoll das Prädikat „dominant" zugestanden hat, braucht es für Zverev ohnehin unbedingt Siege bei den Turnieren. Da es für diese die mit Abstand höchsten Punkte für das ATP-Ranking gibt – 2.000 für einen Sieg, im Vergleich zu 1.000 bei den acht Master-Events und lediglich 500 Punkten bei einem Gewinn eines ATP-World-Tour-Turniers. Interessant für das Punktesammeln sind allerdings auch die ATP Finals, da der Sieger sein Konto um 1.500 Points aufbessern kann.
In Melbourne zählt Alexander Zverev im Januar 2022 auf jeden Fall zu den heißesten Titel-Kandidaten. Der Untergrund, auf dem gespielt wird, eine synthetische Hartplatz-Oberfläche, dürfte seinem schnellen, aggressiven Spiel sehr entgegenkommen. Auch wenn er ohnehin im Unterschied zu einigen (Sandplatz- oder Rasen-) Spezialisten auf allen Belägen absolut konkurrenzfähig ist. Zudem hat der inzwischen 24-jährige Modellathlet mit 1,98 Meter Gardemaß, der von seinem Bruder Mischa als Manager und seinem Vater Alexander Senior als hauptverantwortlichem Coach betreut wird, seine schon herausragende Technik im Laufe der vergangenen Monate nochmals verbessern und verfeinern können. Neben der beidhändigen Rückhand, die lange Zeit als seine größte Stärke gegolten hatte, ist eine knallhart zielgenaue Vorhand auf Weltklasse-Niveau getreten, die früher meist nur bei für ihn guten Spielverläufen aufgeblitzt war. Die weiß er inzwischen aber auch zum Diktieren des Geschehens auf dem Court oder auch für direkte Winner einzusetzen. Daraus resultiert eine offensive Spielweise, die einen Rückzug auf die hinteren Bereiche des Platzes gleichsam ausschließt. Denn ständige Attacken sind, ausgehend von einer Position sehr nahe der Grundlinie, vorprogrammiert und können als beste Vorbereitung für Zverevs schon immer erstklassigen Übergang ans Netz dienen. Seinen gefürchtet präzisen und variantenreichen, aber zuweilen etwas wankelmütigen Aufschlag konnte er inzwischen deutlich stabilisieren. Was auch seinem Widersacher Djokovic nicht entgangen war, der Zverev daher jüngst unter die besten Aufschläger im Tennis-Zirkus eingereiht hatte.
Zverev als einer der heißesten Titelkandidaten
Dass ein Sieganwärter der Australian Open mit den extremen klimatischen Bedingungen im Glutofen rund um die Rod Laver Arena klarkommen muss, dürfte Zverev natürlich voll bewusst sein. Aber vor allem wird der deutsche Hoffnungsträger neben der ihn ohnehin auszeichnenden Fitness die nötige mentale Stärke brauchen, um in engen, kniffligen und auch mal über fünf lange Sätze gehenden Matches die Oberhand über starke Gegner aus den Top Ten behalten zu können. Denn geschlagen hat er sie quasi schon alle, wenn auch nur in Zwei-Gewinnsätze-Aufeinandertreffen. In Melbourne wird er den Beweis antreten müssen, dass er inzwischen die Fähigkeit besitzt, die mentale Schippe drauflegen zu können, um als Sieger nach drei Gewinnsätzen den Platz stolzen Hauptes verlassen zu können. Nach derzeitigem Wissensstand dürften die üblichen Verdächtigen zu Zverevs Hauptkonkurrenten um die Krone der Australian Open zählen: Die Nummern zwei und vier der Weltrangliste, Medwedew und Tsitsipas (trotz seiner Ellbogen-Operation vor Kurzem wohl spielfähig). Dazu kommen die beiden Rückkehrer nach langer Verletzungspause, nämlich der spanische Oldie-Evergreen Rafael Nadal und Zverevs Angstgegner Dominic Thiem.