Das deutsche Damentennis hat ohne Zweifel ein Nachwuchsproblem. Hinter den Frontfrauen Angelique Kerber und Andrea Petkovic klafft eine riesige Lücke.
Was Andrea Petković wohl antwortet, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wird? Die Auswahl ist auf jeden Fall groß. Die 34-Jährige verdient als Profi-Tennisspielerin ihr Geld, klar, aber eben nicht nur. Sie darf sich inzwischen auch als literarische Autorin bezeichnen, ihr Erstlingswerk „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" mit Geschichten rund um ihr Leben im Tenniszirkus wurde vom Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung" als „reflektierendes, oft witziges, noch öfter nachdenkliches, weises Buch" gelobt. Es brachte ihr sogar eine Einladung zum „Literarischen Quartett" im ZDF ein. Bei dem Sender moderiert die vielseitige Frau seit zwei Jahren in unregelmäßigen Abständen auch die „Sportstudio-Reportage". Doch das reicht Petković immer noch nicht. Sie schreibt auch Kolumnen für große Tageszeitungen und Magazine, erst kürzlich gab die deutsche Version der „Sports Illustrated" die Zusammenarbeit mit Petković bekannt. Ihr erster Artikel dort handelte vom Altern im Profisport.
Es sei „ein komisches Ding, dieses Älterwerden", schrieb Petković einmal. Sie sei zwar erst Mitte 30, stünde aber trotzdem kurz vor der (Tennis-)Rente. Sie brauche morgens nach dem Aufstehen 20 Minuten Dehnübungen, um überhaupt schmerzfrei die Treppe hinunterzukommen. „Ich sage immer", so Petković, „ich bin jung fürs Leben, aber alt fürs Tennisspielen."
Aber noch nicht zu alt – und das ist gut für das deutsche Damentennis. Petković, die eigentlich schon für 2020 ihr Karriereende angekündigt hatte, mischt noch immer munter mit. Anfang November nach dem Aus der deutschen Damen-Auswahl in der Gruppenphase des Billie Jean King Cups in Prag hatte die Darmstädterin angekündigt, auch 2022 bei der Profiserie aufzuschlagen. Körperlich gehe es ihr bis auf ein paar Wehwehchen gut, und ihr 75. Platz in der aktuellen Weltrangliste lasse zu, „bei allen Grand Slams zu spielen". So wie bei den Australian Open (17. bis 30. Januar), wo Petković als zweitbestplatzierte deutsche Spielerin an den Start geht. Vor ihr rangiert nur die dreimalige Grand-Slam-Siegerin Angelique Kerber (16.), hinter ihr klafft eine große Lücke. Laura Siegemund folgt auf Platz 125, doch sie ist genau wie Kerber 33 Jahre alt und damit nur ein Jahr jünger als Petković.
Keine Frage: Das deutsche Frauen-Tennis steckt in einer Krise. Das ist aber keine neue Entwicklung, spätestens vor einem Jahr beim Grand-Slam-Auftakt in Down Under war diese Erkenntnis überall angekommen. Damals hatte keine Athletin des Deutschen Tennis-Bundes (DTB) den Sprung in die dritte Runde geschafft, das war die schlechteste Grand-Slam-Bilanz seit den French Open 2010. Für Barbara Rittner, die als Head of Women’s Tennis im DTB die Verantwortung trägt, war es schon damals keine Überraschung. „Wir haben das ja kommen sehen", sagte sie und machte wenig Hoffnungen darauf, dass aus dem Nachwuchs demnächst jemand ganz oben anklopfen könnte: „Es wird eine Weile dauern, bis wir wieder an diese Erfolge anknüpfen. Momentan sehe ich da keine Überfliegerin."
In diesem Jahr muss es wieder die „alte" Generation richten. Fast alle Hoffnungen ruhen dabei – wie so oft – auf Kerber. Die Kielerin hat ein „unglaubliches halbes Jahr" hinter sich, in dem ihr das Comeback an die Weltspitze gelungen war. Auf den Turniersieg in Bad Homburg folgte der fast nicht für möglich gehaltene Halbfinal-Einzug in Wimbledon und die zwischenzeitliche Rückkehr in die Top Ten der Weltrangliste, die sie einst 34 Wochen lang angeführt hatte. Die Zeiten als Nummer eins sind zwar vorbei, aber an sehr guten Tagen kann Kerber auch die Topspielerinnen schlagen. So wie beim Billie Jean King Cup, als sie der tschechischen French-Open-Siegerin Barbora Krejčíková eine Niederlage zufügte.
Kerber traut sich einiges zu
„Natürlich werde ich versuchen, den Schwung mitzunehmen", sagte Kerber, die mit deutlich mehr Selbstvertrauen ins neue Jahr geht: „Ich habe gute Spielerinnen geschlagen und bin wieder ganz oben bei den Topleuten." Und um diesen Platz will sie mit aller Macht kämpfen. Die Favoritinnen wie Ashleigh Barty (Australien), Aryna Sabalenka (Weißrussland), Garbiñe Muguruza (Spanien) oder Karolina Plíšková (Tschechien) sollten wissen, „dass sie ihr bestes Tennis spielen müssen, um mich zu schlagen", sagte Kerber. Und in den Gesprächen und an den Blicken spüre sie auch, dass ihnen das bewusst sei. „Ich habe in den letzten sechs Monaten hart gearbeitet, um mir diesen Respekt zurückzuholen", sagte Kerber: „Ich werde alles dafür tun, dass das auch so bleibt." In Melbourne tritt sie nicht an, um nur dabei zu sein: „Ich will bei großen Turnieren um Titel spielen. Das ist meine Motivation."
Auf die Unterstützung ihres Erfolgstrainers Torben Beltz wird sie dabei aber verzichten müssen. Kerber gab im November die mittlerweile dritte Trennung von Beltz bekannt, mit dem sie zwei Grand-Slam-Titel, den Aufstieg zur Nummer eins und Olympia-Silber 2016 in Rio de Janeiro gefeiert hatte. Auch der jüngste Aufschwung war ihr unter der Leitung von Beltz geglückt – umso überraschender kam das erneute Aus. Die Beziehung der beiden war von großer Wertschätzung und Innigkeit geprägt. „Keiner weiß besser Bescheid, wie ich ticke", hatte Kerber im Sommer über den Trainer gesagt. Auf genaue Gründe der Trennung ging sie nicht ein, sie erklärte lediglich, künftig „mehr Verantwortung übernehmen" zu wollen. Vielleicht ging der Abschied aber auch von Beltz aus, denn der 44-Jährige fand schnell einen neuen, hochinteressanten Job: Er trainiert nun das 18 Jahre alte Tennis-Juwel Emma Raducanu. Die Tochter des Rumänen Ian Răducanu und der Chinesin Renee triumphierte im vergangenen Herbst überraschend in New York City, ihr wird aufgrund ihrer Anlagen und auch ihrer Persönlichkeit eine schillernde Karriere prophezeit. Doch bei den Australian Open wird sie nicht antreten, weil sie nach einem positiven Coronatest die strengen Hygieneauflagen des Veranstalters nicht erfüllen kann.
Zumindest die Einreise nach Australien ist Petković ohne Probleme geglückt, und auch sportlich verlief der Jahresauftakt sehr erfreulich. Beim Vorbereitungsturnier in Melbourne besiegte sie in der ersten Runde die an Position fünf gesetzte Russin Ljudmila Samsonowa 6:3, 7:6 (7:3). Bei Petković ist kaum eine Altersmüdigkeit zu spüren. „Petko sucht den Wettbewerb, den Vergleich mit den Besten. Sie ist nach wie vor hochmotiviert und ehrgeizig und hat sich für 2022 sehr viel vorgenommen", berichtete Rittner. Eigentlich wollte Petković den Schläger schon 2020 in die Ecke stellen, doch bei einem Turnier in Bad Homburg war die Leidenschaft zurückgekehrt. „Das war das erste Mal, dass ich gespürt habe: Da ist noch Feuer drin. Das macht mir noch richtig viel Spaß", verriet die Hessin. Ihr anschließender WTA-Turniersieg im rumänischen Cluj-Napoca, ihrem ersten seit 2015, hat die Rechtshänderin dann vollauf vom Weitermachen überzeugt. Auch wenn es nicht immer so einfach ist, wie sie selbst zugibt: „Die Regeneration ist schon langsamer geworden." Auch deshalb könne sie unmöglich sagen, „dass ich auf jeden Fall noch fünf Jahre spiele".
Neue (Tennis-)Frauen braucht also das Land. Beim Billie Jean King Cup, dem wichtigsten Wettbewerb für Nationalmannschaften im Damentennis, feierten von Jule Niemeier (22) und Nastasja Schunk (18) vielversprechende Debüts. „Für die zwei Newcomerinnen war es das erste Mal und eine riesengroße Erfahrung", sagte Kerber. Beide hätten sich „gut in das Team eingefügt" und bei den Einsätzen im Doppel wichtige Erfahrungen für den nächsten Karriereschritt gesammelt. Der muss auch kommen, denn in absehbarerer Zeit werden Kerber (33), Petković (34) und Siegemund (33) die Bühne verlassen. Julia Görges (34) hat dies bereits getan, und ob Sabine Lisicki (31) nach ihrer schweren Knieverletzung nochmal oben angreifen kann, erscheint mehr als fraglich.
Vielversprechend, aber erfolglos
Carina Witthöft (25), Annika Beck (26) oder Antonia Lottner (24), die zwischendurch als vielversprechende Nachwuchshoffnungen gehandelt wurden, schafften den Durchbruch nicht. Rittners Blick richtet sich daher schon auf die neue Tennis-Generation um Niemeier und Schunk, auch wenn sie warnt: „Man darf diese jungen Spielerinnen nicht zu sehr unter Druck setzen, denen muss man Zeit geben."
Bei Niemeier aber scheint die Zeit reif für den nächsten Schritt. Die Dortmunderin hat erstmals im vergangenen Mai groß auf sich aufmerksam gemacht, als sie beim WTA-Turnier in Straßburg bis ins Halbfinale gestürmt war und dort der Topfavoritin Barbora Krejčíková in drei hart umkämpften Sätzen alles abverlangt hatte. Dass die Tschechin zwei Wochen später auch bei den French Open triumphierte, machte Niemeier noch mal deutlich: Sie ist nahe dran am Durchbruch. Sie habe gesehen, „dass ich die Qualität habe, um auch gegen solche Spielerinnen zu gewinnen", sagte Niemeier, die gegen Krejčíková noch nicht mal in Topform war: „Ich habe an dem Tag leider nicht mein bestes Tennis gezeigt." Auch deswegen „ärgert" sie die Niederlage noch heute.
Die drei Jahre jüngere Schunk ließ im Vorjahr mit ihrem Finaleinzug beim Junioren-Turnier in Wimbledon aufhorchen. „Das war ein richtig cooles Gefühl", sagte der Teenager aus Altrip. Ihr großes Ziel sei es, „in die Weltspitze" zu kommen, auch wenn ihr bewusst ist: „Das ist noch ein langer Weg."
Das deutsche Damentennis muss Geduld haben – und hoffen, dass Kerber und Petković noch etwas länger dabei sind.