Emilie Mayer feierte im 19. Jahrhundert außerordentliche Erfolge als Komponistin. Barbara Beuys hat eine Biografie über die Ausnahme-Künstlerin geschrieben.
Europas größte Komponistin" heißt der Untertitel dieser Biografie. 1812 im mecklenburgischen Friedland geboren, erhielt Emilie Mayer früh Klavierunterricht und schlug mit fast dreißig Jahren, nach dem Tod des Vaters, eine Laufbahn als Komponistin ein. Mal in Berlin, mal in Stettin lebend, komponierte sie sogar Sinfonien, was dem Frauenbild ihrer Zeit vollkommen widersprach. Die Historikerin, Schriftstellerin und Journalistin Barbara Beuys legt die erste Biografie über die hochbegabte und zielstrebige Künstlerin vor.
Frau Beuys, war Emilie Mayer wirklich „Europas größte Komponistin"?
Ein Buchtitel darf auch mal zuspitzen, aber im Fall von Emilie Mayer ist dieser Superlativ kaum übertrieben. Was die Quantität angeht, war sie mit Abstand die produktivste Komponistin des 19. Jahrhunderts: mit acht Sinfonien, 15 Ouvertüren, zehn Streichquartetten. Ihr ungeheures Talent wurde von den Herrn Musikkritikern ihrer Zeit, wenn auch manchmal widerstrebend, vielfach bestätigt.
Mal abgesehen von der Begabung – was hat so einen Ausnahme-Werdegang ermöglicht?
Eine Grundlage dafür findet sich in der Kindheit. Emilie Mayer wuchs in Friedland auf. Als Fünfjährige begann sie mit dem Klavierunterricht, was damals in bürgerlichen Schichten ganz normal war. Ihr Lehrer, der Organist und Kantor, war eine ungewöhnliche Persönlichkeit, denn als Emilie ihm eigene Tänze, Rondos und Variationen vorspielte, ermutigte er sie: „Wenn du so weiter machst, wird was aus dir". Das war damals ein absoluter Tabubruch, galt doch die Mutterschaft als Lebensziel jeder Frau. Die Talente von Mädchen wurden im Keim erstickt.
Wie haben die Eltern darauf reagiert?
In der Familie muss eine aufgeschlossene Atmosphäre geherrscht haben, da der Vater nicht einschritt. Am Ende beschloss Emilie Mayer, die Musik zu ihrem Lebensinhalt zu machen. Als der Vater starb, war die 29-Jährige noch unverheiratet, was sehr ungewöhnlich war. Kurz darauf packte sie ihre Koffer und zog nach Stettin, wo sie bei dem Komponisten Carl Loewe vorsprach, der ihr Lehrer wurde. Loewe hat ihre ersten beiden Sinfonien in Stettin aufführen lassen. Das gab ihr ein paar Jahre später den Mut, nach Berlin zu gehen und ihr erstes Konzert im Königlichen Schauspielhaus zu organisieren.
Wie hat es Emilie Mayer geschafft, sich im männlich dominierten Musikleben durchzusetzen?
In Frankreich konnte auch eine Schriftstellerin wie George Sand Erfolg haben, die in Männerkleidung und mit Zigarre auftrat. Emilie Mayer hat erkannt, dass sie im deutschen Kulturraum listig vorgehen muss: Sie trat als bescheidene, freundliche, zurückhaltende Frau auf. Das entsprach dem herrschenden Frauenbild und machte es den Männern leicht, sie zu fördern. Das war eindeutig eine Taktik. Hinter den Kulissen hat sie ihre Konzerte, und alles was damit zusammenhing, zielstrebig und selbstbewusst organisiert. Sie pflegte Kontakte mit Musikern, Orchestern und Verlagen. Ab 1841 erleichterte ihr übrigens die neue Zugverbindung zwischen Berlin nach Stettin das Reisen. Mit der Postkutsche dauerte das 16 Stunden, und Frauen brauchten hier immer eine männliche Begleitung. Mit dem Zug fuhr man in viereinhalb Stunden.
Könnten Sie ein Beispiel für ihr zielstrebiges Vorgehen nennen?
Als Stettinerin, also aus der „Provinz" kommend, trat sie 1841 erstmals mit ihren Kompositionen im Berliner Königlichen Schauspielhaus auf; dazu brauchte sie die Zustimmung des Königs. Das ist doch eine Sensation! Den Kennern war sie schon ein Begriff, weil es zuvor zwei Besprechungen ihrer Werke in der „Neuen Berliner Musikzeitung" gab. Ludwig Rellstab – die Autorität unter den Musikkritikern, zugleich aber sehr konservativ – hat ihr erstes Berliner Konzert mit einem Paukenschlag angekündigt: Dass hier eine Frau ausschließlich ihre eigenen Werke aufführt, sei ein Unikum in der musikalischen Weltgeschichte. Das Konzert war so erfolgreich, dass Emilie Mayer fünf Jahre lang im Frühjahr eine Veranstaltung im Schauspielhaus organisierte, wofür sie immer wieder neue Werke schrieb. Das wäre auch für einen Mann ein unglaublicher Erfolg.
Hat sich Emilie Mayer bewusst gegen Ehe und Familie entschieden?
Ja. Dazu gibt es eine Quelle von der Schriftstellerin Elisabeth Sangalli-Marr, die sich für die gleichberechtigte Bildung von Frauen einsetzte. Es ist die einzige große persönliche Beschreibung von Emilie Mayer: eine zweiteilige „Biographische Skizze", die 1877 in der „Neuen Berliner Musikzeitung" erschien. Elisabeth Sangalli-Marr sagt eindeutig, Emilie Mayer habe „der Kunst wegen der bindenden Ehefessel entsagt". Da spricht sie ein Tabu aus, denn natürlich musste eine Frau heiraten; alleine zu leben war eigentlich unmöglich. Die Bestimmung von Frauen war es, Gattin und Mutter zu sein. In der Öffentlichkeit hatten sie nichts verloren. Emilie Mayer war klar: Nach einer Heirat wären alle Chancen dahin, Komponistin zu werden.
Wie haben Sie Emilie Mayer für sich entdeckt?
In den vergangenen vier Jahrzehnten habe ich 22 Bücher geschrieben, darunter acht Frauen-Biografien. Beim Nachdenken über ein neues Projekt fiel mir auf, dass ich mich noch nie einer Musikerin gewidmet hatte. Dabei ist die Musik für mich eine Art Lebenselixier, auch wenn ich keine Expertin bin. Bei meiner ersten Internet-Recherche habe ich gestaunt, wie viele Komponistinnen es gab.
Warum nun gerade Emilie Mayer?
Mich faszinierte sofort ihre ungewöhnliche und einmalige Karriere. Ich war neugierig, welche Verbindungen es zum generellen Aufbruch der Frauen im 19. Jahrhundert gibt. Bemerkenswert ist aber auch das plötzliche und radikale Verschwinden ihrer Musik nach ihrem Tode. Ich habe mich gefragt, wie all das möglich war. Zugleich gibt es keine persönlichen Quellen, so dass Emilie Mayer als Person bisher ziemlich blass geblieben ist. Das war eine Herausforderung an die Historikerin in mir: Gelingt es, weitere Spuren zu finden, um ihr Profil zu schärfen?
Wo haben Sie weitere Spuren gefunden?
Ich begann, ihr Umfeld zu durchforsten. Fündig wurde ich vor allem im Internet. In den Archiven gibt es nichts, abgesehen von zwölf Briefen, die Emilie Mayer an ihren Musikverlag Bote & Bock in Berlin schrieb. Die Briefe liegen in der Berliner Staatsbibliothek, sind aber auch digitalisiert. Eine andere Spur, die bislang noch niemand beachtet hat, führt zu dem Berliner Historiker Leopold von Ranke und geradewegs in den Salon seiner Frau Clarissa, wo sich die geistige Elite Berlins traf. Emilie hat hier eigene Werke aufgeführt. Ich habe auch entdeckt, dass Clarissa von Ranke ein Sonett über Emilie Mayer geschrieben hat.
Es gibt ein einziges anderes Buch über Emilie Mayer, das Almut Runge-Woll 2003 vorgelegt hat. Wie unterscheidet es sich von Ihrer Herangehensweise?
Almut Runge-Woll ist Musikwissenschaftlerin; zwei Drittel des Buches beschäftigen sich mit Emilie Mayers Werk. Hier steht die Komponistin im Vordergrund, bei mir hingegen die Persönlichkeit. Ich versuche, ein breites Panorama zu zeichnen; zunächst vor dem Hintergrund ihrer deutschen Zeitgenossinnen wie Fanny Hensel, Schwester von Felix Mendelssohn, und Clara Wieck, Ehefrau von Robert Schumann – die beide als Komponistinnen gescheitert sind, weil sie verheiratet waren. Faszinierend ist aber auch der Unterschied zu Frankreich.
Inwiefern erging es den Französinnen anders?
Ein Beispiel ist Louise Farrenc, Ehefrau, Mutter, Komponistin und Professorin am Pariser Konservatorium. Ihr Mann hat sie unterstützt. Obwohl die Französinnen auch eingeschränkt lebten, hatten sie in der Musikkultur seit jeher eine recht selbstständige Stellung. Schon im 17. Jahrhundert gab es Frauen-Salons, Musiklehrerinnen oder sogar Musikerinnen in der Kapelle des Königs.
Wie wurde Emilie Mayer von ihren Zeitgenossen wahrgenommen?
Es ist interessant: Je mehr die Musikzeitschriften über ihre Konzerte berichten, desto weniger wird sie mit den männlichen Komponisten verglichen, sondern als eigenständige Künstlerin gesehen. Ab den 1870er-Jahren schlägt die gesellschaftliche Entwicklung jedoch um. Mit dem Deutsch-Französischen Krieg wächst nicht nur der Nationalismus, sondern auch eine Art Frauen-Hetze. Wissenschaftler schreiben Pamphlete gegen eine Frauenbewegung, die Gleichberechtigung fordert. Da schwenken auch gleich die Musikkritiker um. Die traditionelle Sichtweise, dass Frauen allenfalls Lieder komponieren können, greift wieder voll durch. Große Instrumentalwerke stünden Frauen nicht zu, heißt es. Davon lässt Emilie Mayer sich aber nicht beeindrucken.
Wie zeigt sich das?
Es ist eine klare Botschaft, dass sie 1879, vier Jahre vor ihrem Tod, ihre „Faust"-Ouvertüre für großes Orchester schreibt. Das ist eine echte Provokation! „Faust" war ein Männerthema. Über „Faust" haben Schumann, Wagner, Berlioz, Liszt komponiert. Die Ouvertüre wurde dann sehr erfolgreich aufgeführt. Diese Komposition sollte man auf jeden Fall hören, wenn man Emilie Mayer kennenlernen möchte. Sie zeigt ihren einzigartig konzentrierten musikalischen Zugriff.
Warum sind Emilie Mayers Werke nach ihrem Tod so schnell aus den Konzertsälen verschwunden?
Als sie starb, war niemand mehr da, der ihre Konzerte organisieren konnte. Trotzdem bin ich verwundert, dass man schon wenige Jahre nach ihrem Tod nichts mehr von ihr wusste. Sie muss als Persönlichkeit ungeheuer präsent gewesen sein.
Wo befindet sich der Nachlass?
Sie hat ihre Noten und Partituren einer Nichte vermacht, die in Berlin lebte. Deren Kinder übergaben das gesamte Material 1918 der Staatsbibliothek. Etliche Unterlagen sind noch gar nicht erschlossen.
Wirkt das traditionelle Frauenbild bis in unsere Gegenwart?
Im 19. Jahrhundert wurde der Vorrang des Mannes von Philosophen wie Arthur Schopenhauer untermauert, der Frauen als „Mittelding zwischen Kind und Mann" bezeichnete. Mediziner argumentierten mit der Größe des männlichen Gehirns. Dass Frauen noch heute in den leitenden Positionen von Kultur, Politik und Wissenschaft in der Minderheit sind, geht auf dieses Bild einer angeblich von der Natur so angelegten Polarität der Geschlechter zurück. Dass Frauen komponieren und dirigieren, ist noch immer eine Ausnahme. Da gibt es noch viel zu tun.