Ein Hit auf dem Streamingdienst Netflix ist zurzeit „The Unforgivable". Das spannende Drama ist das US-Debüt der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt und zeigt die Hauptdarstellerin ungewohnt hart.
Am Anfang ist das Chaos. Denn die ersten Minuten von „The Unforgivable" machen es dem Zuschauenden nicht unbedingt leicht, sich in die Handlung einzufinden. Zu sehen sind dramatische Bilder einer Frau, die sich mit ihrer kleinen Schwester in ihrem Haus verrammelt hat und die den sich näherndem Polizisten mit einem Gewehr bedroht. Parallel zu diesen hektischen Rückblenden sind Szenen aus der Gegenwart geschnitten: Eine Frau mit dem Namen Ruth wird aus dem Knast entlassen, der Bewährungshelfer erklärt ihr die Regeln, Ruth versucht, sich zurechtzufinden und stößt überall an Grenzen. Das ist alles in nüchternen, recht farblosen Bildern gedreht, die städtische Umgebung ist rau, die Menschen abweisend, die Chancen für Ruth gehen gegen null. Denn sie hat etwas Unverzeihliches getan. Die Vergangenheit hat sie noch immer im Griff.
„The Unforgivable" ist der erste US-Film der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt, die 2019 mit ihrem Langfilmdebüt „Systemsprenger" einen internationalen Erfolg feiern konnte. Das Mädchen Bernadette aus ihrem ersten Film und die erwachsene Ruth aus „The Unforgivable" erscheinen wie Schwestern: Sie sind im Herzen gut, für ihre Mitmenschen schwierig, für die Zuschauer schwer zu fassen – und ebenso wie Bernadette erreicht Ruth am Ende zwar einen kleinen Erfolg, der aber noch nicht gefestigt ist und für den noch einige Mühen nötig sein werden, um ihn zu halten.
Sandra Bullock spielt Ruth, deren Emotionen sich nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis erheblich aufstauen, während sie sich nach außen hin beherrscht und spröde gibt. Verurteilt wurde Ruth wegen Mordes an dem Polizisten, der an dem schicksalhaften Tag vor 20 Jahren in ihr Haus eingedrungen war. Was genau passiert ist, wird in „The Unforgivable" in vorsichtigen Schritten enthüllt, während der rote Faden der Handlung sich an Ruths Bemühen abwickelt, ihre jüngere Schwester zu finden. Nach Ruths Verhaftung und Verurteilung haben sich die Schwestern nicht mehr gesehen. Das Drama nimmt seinen Lauf, weil die Söhne des getöteten Polizisten von Ruths Freiheit erfahren und auf Rache aus sind.
Spannendes Drama über ein gnadenloses System
Es mag eine Weile dauern, aber „The Unforgivable" entwickelt eine Spannung, die anfänglich unwirklich im Hintergrund wabert, sich dann von Szene zu Szene an die Oberfläche gräbt, bis sie im letzten Viertel des Filmes eine Mauer durchbricht. Sandra Bullock schafft es, dass der Zuschauer ihrem nicht immer logischen Weg folgt und erfahren möchte, aus welchem Grund Bullocks Rolle die Vergangenheit nicht ruhen lassen kann. Da ist es gut, dass das Drehbuch zwar mehrere Nebenhandlungen präsentiert, aber diese niemals in den Vordergrund vordringen lässt. Die zarte Freundschaft zwischen ihr und ihrem Arbeitskollegen Blake endet abrupt; Ruths neuer Job als Schreinerin verschafft ihr nur einen kleinen Lichtblick; und auch der Bewährungshelfer Vincent bleibt am Rande mit seinen Ratschlägen.
Sandra Bullock wurde in den 90er- und 2000er-Jahren durch Komödien wie „Während du schliefst", „Ein Chef zum Verlieben" und „Miss Undercover" zu einer der bestbezahltesten Stars Hollywoods. Nach ihrem Oscar für „The Blind Side" (2009) hat sie größere Erfolge in dramatischen Rollen wie „Gravity" (2013) und „Bird Box" (2018) gefeiert. Mit „The Unforgivable" beweist Bullock, dass keine Schauspielerin in Hollywood dramatischer leiden kann. Sandra Bullock meistert auch den schwierigen Charakter der schweigsamen Ruth, die ihren Mitmenschen lange nicht zeigt, welche emotionalen Turbulenzen in ihr toben. Ihre Haare sind zerzaust, kein Make-up versteckt die Falten im Gesicht, ihr Gang ist schleppend, die Kleidung zerschlissen. Und Ruths Gesichtsausdruck bleibt starr – nur zweimal verliert sie ihre Kontrolle, der Druck auf Ruth wird zu groß. Weder die Söhne des erschossenen Polizisten, noch die Adoptiveltern ihrer Schwester und auch nicht das soziale System verzeihen Ruth „Das Unverzeihliche" („The Unforgivable"), sodass Ruth letztlich nicht anders kann, als auf der Suche nach ihrer Schwester das System zu brechen. Weil sich der Film von einer etwas wirren Milieustudie des US-Rehabilitationssystems zu einem geradlinigen Thriller mit überraschender Wendung entwickelt, ist Nora Fingscheidts US-Filmdebüt hochspannend.