Der französische Präsident tritt in der Europapolitik in gewisser Weise die Nachfolge von Angela Merkel an – als führender Pro-Europäer. Emmanuel Macron legt als Ratspräsident der EU eine ambitionierte Agenda vor.
Endlich, könnte man in Frankreich sagen: Der ungestüme, aber leidenschaftliche Pro-Europäer Emmanuel Macron tritt in der Europapolitik aus dem Windschatten der 16 Jahre lang amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel heraus. Er ist im deutsch-französischen Verhältnis gegenüber dem neuen Kanzler Olaf Scholz vom Junior- zum Seniorpartner aufgestiegen und wird versuchen, sich in der neuen Rolle als wichtiger Impulsgeber für die Fortentwicklung der EU auszugeben und gleichzeitig im Wahlkampf zu punkten. Es mag wohl eine glückliche Fügung des Schicksals sein, dass die am 1. Januar 2022 begonnene französische EU-Ratspräsidentschaft mitten in den Wahlkampf um das Präsidentenamt in Frankreich fällt.
Ungestüm und ambitioniert
Viel zu oft wurde Macron bei seinen europäischen Ideen in den letzten Jahren von der ehemaligen Kanzlerin ausgebremst oder im Regen stehen gelassen. Ob nun bei einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, einer Neuordnung der Schuldenpolitik der EU oder bei den in Deutschland so gefürchteten Eurobonds, lediglich bei dem EU-Corona-Rettungsfonds in Höhe von 750 Milliarden Euro zogen Frankreich und Deutschland an einem Strang. Nun könnte Macron versucht sein, der EU seinen neuen Stempel aufzudrücken und dabei im französischen Wahlkampf als Pro-Europäer zu glänzen. Denn die Europaskeptiker und -ablehner sitzen bei der extremen Rechten um Marie Le Pen und Éric Zemmour sowie bei den Linken um Jean-Luc Mélenchon. Und selbst die konservativen Parteien Frankreichs kritisieren vielfach die Institutionen und die Politik der EU. Macron wird sicher klug genug sein, alles in der EU zu unterlassen, was seine Wiederwahl gefährden könnte. Gelingt es ihm, die EU-Kritiker in Schach zu halten und seine Landsleute, allen voran die politische Mitte, nicht mit einer allzu forschen EU-Politik zu vergraulen, könnte er im Wahlkampf tatsächlich punkten.
Wie lauten die Kernthemen der französischen EU-Ratspräsidentschaft, und wie passt das zum wichtigsten Partner Deutschland? Der Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten, Clément Beaune, spricht von fünf Kernthemen während der sechsmonatigen Ratspräsidentschaft in Frankreich: die Stärkung der Souveränität Europas, die Lösung der Flüchtlingsverteilung, das Voranbringen einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Reform der europäischen Stabilitäts- und Wirtschaftspolitik, sprich Schuldenpolitik, sowie der Klima- und Umweltschutz.
Die bereits lange Zeit schleichende Desintegration Europas aufzuhalten, dürfte wohl die schwierigste Aufgabe während der Amtszeit sein. Der wie ein Damoklesschwert über der EU hängende „Polexit" ist anders gelagert als der bereits juristisch vollzogene, aber de facto unvollendete Brexit; denn im Gegensatz zu den Briten wollen die Polen laut Umfragen mehrheitlich in der EU bleiben, sich allerdings nicht dem europäischen Werte- und Rechtssystem beugen, zumindest nicht die nationalpopulistische Regierungspartei PiS. Auch Ungarn gehört zu den abtrünnigen und unberechenbaren Kandidaten. Wie also umgehen mit dem drohenden Auseinanderbrechen der EU an der Ostflanke Europas? Und vor allem: Was tun, wenn das Beispiel Polen Schule macht? Auf jeden Fall kann sich Macron mit der neuen Bundesregierung sicher sein, dass Deutschland beim Wertesystem und bei der Fortentwicklung Europas mit Frankreich an einem Strang zieht. Im Koalitionsvertrag steht, dass die Bundesrepublik Deutschland die strategische Souveränität Europas und die deutsch-französische Partnerschaft weiter voranbringen will.
Gleiches gilt für die deutsche Außenpolitik, die laut Koalitionsvertrag stärker werteorientiert und mehr mit internationalen Partnern abgestimmt werden soll, zum Beispiel was den Umgang mit Russland und dem Systemrivalen China angeht. Das dürfte ganz nach dem Geschmack Macrons sein, der gern im Konzert der Großen in der Weltpolitik mitmischen möchte.
Das zweite wichtige Thema in Europa ist die seit Jahren ungelöste Flüchtlingsfrage in der EU, vor allem was die gerechte Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten angeht. Die menschlichen Tragödien, die sich an der Grenze zwischen Polen und Belarus abspielen, aber auch der Flüchtlingsstreit zwischen Frankreich und Großbritannien dürften diese Krise weiter befeuern. Frankreich, das sich als Verfechter der Menschenrechte sieht, drängt auf ein europäisches Zuwanderungsgesetz und kann sich dabei der Unterstützung Deutschlands relativ sicher sein.
Differenzen sind eher bei der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zwischen Deutschland und Frankreich zu erwarten. Es herrscht zwar allgemeiner Konsens, dass Europa mehr für die eigene Sicherheit tun muss, aber ist Deutschland ein zuverlässiger Partner aus Sicht der Franzosen? Zumal Teile der SPD und der Grünen militärischen Interventionen als Friedensmissionen skeptisch gegenüberstehen. Emmanuel Macron denkt an eine dem Europaparlament unterstellte europäische Armee, während Olaf Scholz in der Nato den wichtigsten Sicherheitsgaranten für Deutschland sieht.
Mit Skepsis betrachtet Frankreich außerdem die von den Grünen forcierte Begrenzung von Rüstungsexporten, zumal die französische Waffenindustrie zu den größten Exporteuren weltweit zählt.
Streitpunkt Finanzpolitik
Deutliche Unterschiede lassen sich in der Finanzpolitik der EU erwarten. Zwar ist der europäische Stabilitäts- und Wirtschaftspakt für ein weiteres Jahr wegen der Corona-Krise ausgesetzt, aber mit Christian Lindner sitzt ein deutscher Finanzminister am Tisch, der in der Vergangenheit vehement gegen die Vorschläge Macrons zur Vergemeinschaftung der Schulden in der EU opponiert hat. Die anvisierte Sparpolitik Deutschlands und die Rückkehr zur Stabilitätspolitik nach der Krise sind nicht im Sinne Macrons, der auf eine Reform, sprich Lockerung, der Schuldenregelung in der EU drängt. Deutschland fehlt in der EU bei diesem Thema Großbritannien an seiner Seite, während Frankreich sich der Unterstützung der Mittelmeeranrainerstaaten sicher sein kann. Der Konflikt Nord gegen Süd in der Finanzpolitik könnte in der EU wieder an Schärfe zulegen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich bei der Schuldenpolitik der EU bisher diplomatisch vornehm zurückgehalten.
Bei der Klima- und Umweltpolitik herrscht auf den ersten Blick Friede, Freude, Eierkuchen zwischen den beiden großen Partnern. Die Dringlichkeit, den Klimawandel einzudämmen, steht außer Frage. Aber der zu beschreitende Weg, die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen, könnte unterschiedlicher nicht sein. Die Differenzen in der Energiepolitik sind enorm. Erst unlängst hat Macron angekündigt, eine Milliarde Euro bis 2030 in den Bau neuer Kernreaktoren zu investieren, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Macron drängt auf europäischer Ebene darauf, Kernenergie als nachhaltig anzuerkennen, da es wie Sonne, Wind und Co. keine CO2-Emissionen bei der Stromproduktion verursacht. Deutschland, das aus der Kernenergie seit diesem Jahr endgültig heraus ist und laut Koalitionsvertrag möglichst bis 2030 aus der Kohleverstromung aussteigen will, – in Frankreich spielt Kohle keine Rolle mehr – verfolgt in der Energiepolitik einen anderen Weg als das kernenergiebegeisterte Frankreich. Konflikte scheinen programmiert. Schon beim Zukunftsthema Wasserstoff streiten sich die Protagonisten, ob nun grün erzeugter Wasserstoff auf Basis von Atomenergie oder nur auf Basis erneuerbarer Energien wirklich grün ist.
Trotz zu erwartender Differenzen ist davon auszugehen, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam Schrittmacher für die Weiterentwicklung Europas sein wollen. Sie wissen beide um die Wichtigkeit einer funktionierenden EU. Deutschland muss aber verstehen, dass Macron sich im Wahlkampf befindet. Und was wäre, wenn im Frühjahr die Europaskeptiker die Präsidentschaftswahl gewinnen würden – wohl ein europäischer Super-GAU. Frankreich dagegen ist gut darin beraten, zu verstehen, dass Deutschland von einer Dreierkoalition regiert wird, die zu Kompromissen zwingt – viel mehr, als ein französischer Präsident eingehen muss.