Die sieben deutschen Industriekultur-Welterbestätten – zu denen auch das Weltkulturerbe Völklinger Hütte zählt – initiierten die Gründung einer Bundesstiftung. In einer zweiteiligen Serie stellen wir die spannenden Orte vor – Teil 1.
Digitalisierung, Globalisierung, Nachhaltigkeit, Klimawandel und Migration: Die Antworten für die wichtigsten Fragen der Gegenwart und der Zukunft könnten auch in der Vergangenheit liegen. Davon sind die Initiatoren der Bundesstiftung für Industriekultur überzeugt. Die entsprechende Verlautbarung wurde von den sieben industriellen Unesco-Welterbestätten im vergangenen Oktober unterschrieben.
Einer dieser historischen Orte, die demzufolge „die Kraft der Transformation" verkörpern, ist das Fagus-Werk in Alfeld in Niedersachsen. Gegründet wurde es 1911 von Carl Benscheidt. Er galt als Pionier, weil er Schuhleisten nach neuesten Erkenntnissen der orthopädischen Forschung herstellte. Fagus ist der lateinische Begriff für Buche, deren Holz der Rohstoff für die industrielle Schuhleistenherstellung war. 30.000 Originalmodelle können Besucher im Fagus-Werk bestaunen. Es ist ein „lebendes Denkmal", denn es gehört zu den wenigen nach wie vor für seine ursprüngliche Funktion genutzten Industriedenkmälern. Neben Kunststoffleisten für die internationale Schuhindustrie werden hier aktuell auch Brandschutz- und Messtechnik-Systeme produziert.
Die herausragende universelle Bedeutung des Ortes bezieht sich auf die Architektur: Carl Benscheidt beauftragte den damals noch unbekannten und heute weltberühmten Bauhaus-Architekten Walter Gropius mit dem Entwurf. Das Fagus-Werk gilt mit seinen charakteristischen Bauelementen als Ursprungsbau der modernen Industriearchitektur. Für Licht, Luft und Klarheit sorgen große Glasfronten und eine klare kubische Form, eine Gebäudeform, die in den Industrie- und Gewerbegebieten der Welt noch immer allgegenwärtig ist.
Bauhaus-Architekt Walter Gropius
Architektur spielt auch bei Hamburgs Unesco-Welterbe eine wichtige Rolle. Die dynamische Hafen- und Handelsmetropole befindet sich seit Jahrhunderten im ständigen Veränderungsprozess. Zwischen 1883 und 1927 wurde im Hamburger Hafen die Speicherstadt errichtet: 15 Lagerhäuser in neugotischer Backsteinarchitektur, von Tausenden Eichenpfählen getragen. Auf fünf „Böden" (Stockwerken) wurden unter anderem Kaffee, Tee und Gewürze gelagert.
Zum Unesco-Weltkulturerbe der Hansestadt zählt neben diesem weltgrößten historischen Lagerhauskomplex auch das Kontorhausviertel. Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg entstand dieses imposante Stadtquartier mit bis zu zehngeschossigen Kontorhäusern –
modernistische Bürogebäude, deren charakteristischen Backsteinfassaden für eine filigrane Optik sorgen. Das bekannteste der Stahlbetonbauten ist das Chilehaus, eines der ersten Hochhäuser Deutschlands. Bauherr war der Unternehmer Henry B. Sloman, der Salpeter aus Minen in Chile importierte. Mit seiner an einen Schiffsbug erinnernden Spitze nach Osten ist das Gebäude heute eine Ikone des Expressionismus in der Architektur.
Vom Zusammenspiel von Bergbau, Technik und kaiserlicher Macht erzählt das niedersächsische Unesco-Welterbe „Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft". Die Ensembles von historischen Bauwerken und technischen Denkmälern des Oberharzer Bergbaus bilden eine serielle Welterbestätte, die als Meisterwerk der Bergbau- und Ingenieurkunst sowie hervorragendes Beispiel für Verwaltung und Handel in Mittelalter und Renaissance gilt.
Meisterwerk der Ingenieurkunst
Der 1988 stillgelegte Rammelsberg dokumentiert eindrucksvoll zehn Jahrhunderte Bergbaugeschichte. Er ist nicht nur als einziges Bergwerk der Welt kontinuierlich über 1.000 Jahre in Betrieb gewesen, sondern war zudem einst das weltweit größte zusammenhängende Kupfer-, Blei- und Zinkerzlager. Der Reichtum an Bodenschätzen prägte auch die Geschichte der benachbarten Stadt Goslar. Kaiser Heinrich II. gründete hier eine Pfalz, die über Jahrhunderte hinweg die größte und sicherste Pfalzanlage sächsischer und salischer Kaiser war. 1009 fand in Goslar die erste Reichsversammlung statt. Die Stadt blieb bis zum Jahr 1253 Sitz der deutschen Könige und Kaiser. Von diesen „guten alten Zeiten" zeugt auch die geschlossen erhaltene Altstadt mit Gildehäusern, dem historischen Rathaus, Bürgerhäusern mit kunstvollen Schnitzarbeiten am Fachwerk und den unzähligen Türmen von 47 Kirchen und Kapellen.
Zur Welterbestätte gehören mehr als 2.000 Objekte, die sich auf einer Fläche von rund 200 Quadratkilometer befinden. Neben dem Bergwerk Rammelsberg und der Altstadt von Goslar zählen seit einigen Jahren auch das Kloster Walkenried, das historische Bergwerk Grube Samson in St. Andreasberg und die Oberharzer Wasserwirtschaft dazu. Letzteres ist ein komplexes System aus 107 historischen Teichen, 310 Kilometer Gräben und 31 Kilometer Wasserläufen – eine der weltweit größten vorindustriellen Energieversorgungsanlagen.
Auch hier zeigt sich eindrucksvoll, dass Industriekultur-Welterbestätten einzigartige Zeitzeugen sind, die viel zu erzählen haben.