Die Ukraine und Russland produzieren gemeinsam einen großen Teil des weltweiten Getreides. Durch den Krieg schießen die Preise nun durch die Decke – mit verheerenden Folgen für ärmere Staaten in Afrika, sagt Agrarökonom Prof. Stephan von Cramon-Taubadel. Hier könnte die EU eingreifen – zulasten der Nachhaltigkeit.
Herr Prof. von Cramon-Taubadel, die Weizenpreise weltweit steigen, Regionen wie der Gazastreifen und nordafrikanische Länder sind von Weizenlieferungen aus Russland und der Ukraine abhängig. Welche Auswirkungen sehen Sie auf den Getreidemarkt?
Ein erheblicher Teil der Getreideexporte der Ukraine wird ausfallen. Die ukrainische Ernte im kommenden Sommer wird erheblich reduziert. Bei den Schäden, die der Krieg in der Ukraine anrichtet, kann man davon ausgehen, dass es im günstigsten Fall zwei bis drei Jahre dauern würde, bis das Land wieder so exportiert wie zuvor. Deshalb werden die Preise hoch bleiben. Derzeit erleben wir eine deutliche Preisspitze, kurzfristige Knappheiten. Die Preise für Terminkontrakte mit Fälligkeit nach der kommenden Ernte liegen schon etwas niedriger als heute, aber immer noch sehr hoch im Vergleich zu Vorkriegszeiten. Unter hohen Preisen leiden vor allem ärmere Länder auf dem afrikanischen Kontinent und in Südostasien. Sie geraten durch die hohen Preise finanziell stark unter Druck.
Verteuern sich dadurch auch die Lebensmittel in Deutschland?
Die Nahrungsmittel sind ohnehin teurer geworden, das wird weitergehen. Agrar-Rohprodukte machen jedoch im Durchschnitt nur etwas mehr als 20 Prozent der Preise für Lebensmittel in Deutschland aus – bei Brot etwa macht das Getreide nur vier bis fünf Prozent der Produktionskosten aus. Lieferausfälle in der Ukraine und Russland sind daher nicht der wesentliche Preistreiber in Deutschland, sondern zum Beispiel Energiepreise. Die EU kann sich mit Getreide selbst versorgen und wird im jetzt ablaufenden Vermarktungsjahr 2021/22 netto davon etwa 30 Millionen Tonnen exportieren.
Kann Deutschland, kann die EU kurzfristig etwas tun, um die Preise zu stabilisieren?
Kurzfristig ja, indem wir als Verbraucher zunächst Reflexkäufe vermeiden. Berichtet wird von Hamsterkäufen von Sonnenblumenöl, da die Ukraine sehr viel davon produziert. Aber das führt natürlich nur dazu, dass es noch teurer wird. Kurzfristig ist auch entscheidend, dass unsere Politiker der Versuchung widerstehen, preistreibend wirkende Politikmaßnahmen zu ergreifen (wie ein kürzlich durch Ungarn vorgeschlagenes Weizenexportverbot), wodurch die globale Hungerproblematik nur noch stärker auf die Ärmsten der Armen verlagert wird. Eine große Entlastung für den Markt wäre zudem eine Reduktion des Fleischkonsums. Denn für die Produktion von einem Kilo Fleisch werden mehrere Kilo Getreide und Futtermittel verwendet – hier könnten wir also sparen, um mehr Getreide für den Weltmarkt zu erübrigen. Allerdings können Politiker den Fleischkonsum nicht verordnen – diese Maßnahme ist eher als Appell zu verstehen, im Sinne der globalen Ernährungssicherheit sowie der Umwelt und der eigenen Gesundheit den eigenen Fleischkonsum zu moderieren. Auf EU-Ebene wird nun eine Debatte angestoßen, die Nachhaltigkeit versus Produktivität auf dem Agrarsektor neu abwägt. Dabei hatte man mit Mühe 2021 eine EU-Agrarreform beschlossen und noch mehr auf der Agenda: den Green Deal mit Maßnahmen wie zum Beispiel ein um 50 Prozent reduzierter Pestizid-Einsatz und 25 Prozent Ökolandbau. Der Krieg stellt aber vieles auf den Kopf. Auch wenn es in Brüssel schwerfällt: In den kommenden Monaten werden die Entscheidungsträger die Produktivität wahrscheinlich höher gewichten müssen als die Nachhaltigkeit, und danach erst schauen, wie beides unter einen Hut zu bekommen ist. Dabei müssen sogenannte ‚Leakage-Effekte‘ stets im Auge behalten werden: Jede Maßnahme, die dazu führt, dass in der EU weniger produziert wird, bedeutet bei konstanter Nachfrage, dass woanders auf der Erde mehr produziert werden muss, womöglich zu niedrigeren Umwelt- und Tierwohlstandards.
Wie können wir verhindern, dass die ärmsten Länder der Welt unter dieser Situation leiden müssen?
Laut Berichten hat die Türkei diese Woche Weizen für circa 420 Euro pro Tonne eingekauft – das sind Preise, die für ärmere, importabhängige Länder wie Angola und Ägypten eine Katastrophe sind. Deshalb braucht es jetzt eine konzertierte humanitäre Aktion. Das kostet derzeit eine Menge Geld. Wir können selbst etwas tun, zum Beispiel im Bereich der Bioenergie. Auf etwa eine Million Hektar in Deutschland wird Mais für Biogasanlagen angebaut – auf dieser Fläche könnte für den Teller statt für den Tank produziert werden. Möglicherweise könnte auch China, das laut Schätzungen etwa 60 Prozent der weltweiten Bestände an Getreide lagert, einen Beitrag zur Entspannung der Lage auf den globalen Getreidemärkten leisten. Allerdings herrscht viel Unsicherheit über den Umfang der Lagerbestände, nicht nur in China, und allein diese Unsicherheit destabilisiert die Märkte und wirkt preistreibend.
Könnte der Kreml diese Situation ausnutzen? Russland hat selbst bereits den Getreidehandel per Dekret eingeschränkt.
Weniger als Waffe gegen ein spezifisches Land. Allerdings, indem er dem Markt durch die Invasion und den russischen Exportstopp Getreide entzieht, treibt er die Preise auf dem gesamten Weltmarkt nach oben. In Regionen wie Nordafrika, die traditionell abhängig von Weizenimporten sind, könnte eine Verteuerung zu Unruhen und erneuten Migrationsbewegungen führen. Putin rechnet bestimmt damit, dass dadurch die derzeit erstaunliche Entschlossenheit und Solidarität der EU zukünftig geschwächt wird.
In der Ukraine konzentrieren sich Russlands Truppen vor allem auf die Ostukraine. Gibt es aus Ihrer agrarökonomischen Sicht hier für Putin etwas zu holen?
Hauptsächlich hat es wohl strategische Gründe, um eine Landbrücke zur Krim zu schaffen und, sofern auch die Westküste abgeschnitten wird, nach Transnistrien. Ohne Küste wäre die Ukraine wirtschaftlich deutlich geschwächt. Im Osten der Ukraine befinden sich auch ein erheblicher Teil der besonders fruchtbaren Schwarzerde-Gebiete. Sollte dieses Gebiet an Russland fallen und irgendwann produktiv arbeiten, wäre der russische Anteil am Getreide-Weltmarkt gewachsen (auf etwa 25 Prozent, Anm. d. Red.).
In einem Text zur aktuellen Krise schreiben Sie, die EU solle ihre Biofuel-Politik überdenken. Warum?
Wir wollen unabhängig von Russland als Exporteur fossiler Brennstoffe werden, und gleichzeitig klimaneutral. Bio-Brennstoffe können helfen, diese Ziele zu erreichen. Starre Beimischungspflichten aber, die es ja heute bei Kraftstoffen bereits gibt, sollten meiner Meinung nach aufgeweicht werden, damit Produzenten erlaubt werden kann, zum Beispiel weniger Rapsöl zu Biodiesel zu verarbeiten wenn die Preise für Agrarrohstoffe ansteigen. So könnte die Konkurrenz zwischen Teller und Tank etwas entschärft werden.