Russland war nie so, wie es die Linken gerne gesehen hätten: eine friedliche, sozialistische Kulturnation. Der Krieg stellt die Linken vor eine Zerreißprobe.
Das Wort Abschied hat eine bittere Konnotation. Wenn der Abschied endgültig ist, erinnert er sogar an den Tod. In Charkiw und Mariupol mussten in den letzten Wochen viele tausend Menschen Abschied nehmen, von ihren Liebsten, ihrem Hab und Gut, ihrer Heimat, ihren Träumen. Im Rest Europas müssen Menschen, die sich als „links" oder „intellektuell" verstehen, nur von einer Illusion Abschied nehmen: dass Russland die große sozialistische Kulturnation ist, von der sie immer geträumt haben.
Ja klar, Tolstoi, Dostojewski, Rachmaninow, das Bolschoi. Große Namen, die auf der ganzen Welt einen guten Klang haben. Auch in Mathematik und Schach waren die Russen immer Klasse. Doch dann wird es schon eng, selbst die großen sportlichen Erfolge der Sowjetunion haben den schalen Beigeschmack von Anabolika. Viel mehr als militärische Stärke hat der Kreml nicht zu bieten, denn das flächenmäßig größte Land der Erde hat eine traurige Geschichte: Russland war politisch, wirtschaftlich und kulturell nie so groß, dass es der selbst definierten und von außen empfundenen Bedeutung entsprochen hätte. Russland war immer auch: ein Potemkinsches Dorf.
Fürst Potemkin, Liebhaber und Feldherr der deutschstämmigen Zarin Katharina, hat jenes Groß- oder Neurussland gezimmert, von dem Wladimir Putin träumt. Dass Russland heute in weiten Teilen eine Art Potemkinsches Dorf ist, geht auch auf die Geisteskultur zurück, mit der das Riesenreich auf den Knochen der malträtierten Bevölkerung aufgebaut wurde. Angefangen von Iwan dem Schrecklichen über die Zaren, die Bolschewiken, Stalin und die Sowjetunion: Das faschistoide System basierte stets auf Gewalt, Zwang und Ausbeutung. Nach der kleinen demokratischen Atempause zur Jahrtausendwende gibt Putin dem Land nun mit der ukrainischen Apokalypse den Rest: Die politischen und ökonomischen Kollateralschäden des Krieges sind so immens, dass die russische Bevölkerung noch Jahrzehnte darunter zu leiden haben wird.
Deutsche Politiker haben Warnungen über Putin lange ignoriert
Die verzweifelte Frage, die jetzt die Linken im Westen stellen, nämlich wie groß die Mitschuld der Nato-Staaten an dem Desaster ist, kann man angesichts der Moskauer Monstrosität als perfide bezeichnen; man kann die Frage aber auch umdrehen: Wie groß ist die Mitschuld der Linken, die sich der russischen Seele verwandt fühlen und klammheimlich mit Putin sympathisiert haben? Jahrzehntelang hat man sich vertrauensvoll zum „Gedankenaustausch" getroffen – und angeblich nie bemerkt, welche Ziele und Vorstellungen der Präsident verfolgte. Allen voran der Lobbyist und Millionär Gerhard Schröder (der immer noch in der SPD ist!) und der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der immerhin zugibt, Fehler gemacht zu haben. Aber auch eine Konservative wie Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gehört zu jenen, die mit Putin unendliche Geduld hatten und alle Warnungen vor ihm in den Wind schlugen.
Warum die westliche Linke aber stets sehnsuchtsvoll nach Moskau schielte, obwohl das reaktionäre Oligarchen-System den Grundwerten der Linken –
Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Diversität – diametral widerspricht, ist ein Mysterium. Das paradoxe Verhalten ist vielleicht deontologisch erklärbar, wie der Homburger Hirnforscher Christoph Krick sagt: Der Mensch will von seiner Grundüberzeugung nicht lassen! Die Linken fühlten stets mit Moskau, weil Russland als Mutterland des Sozialismus gilt (der nie funktioniert hat), und weil Russland der natürliche Gegner der kapitalistischen Supermacht USA ist. Das heißt, Moskau gilt als „gut", weil es der Feind meines Feindes ist.
Nun, man muss die USA wahrlich nicht mögen, ihre Präsidenten Bush, Obama oder Trump haben mehrfach krass versagt. Aber Oskar Lafontaine liegt mit seinem „Kriegsverbrecher"-Vorwurf richtig falsch, wenn er den Demokraten Joe Biden mit dem Autokraten Putin vergleicht, dessen wahrer Charakter – Groszny, Georgien, Krim, Donbass, Litwinenko, Skripal, Nemzow, Navalny, Butscha – jedem Linken die Schamröte ins Gesicht treiben müsste.