Am 11. Mai 1997 gelang es erstmals einem Schachcomputer, mit Garri Kasparow einen amtierenden Weltmeister in einem Turnier zu schlagen. Bis dahin hatte das königliche Spiel als Paradebeispiel für menschliche Intelligenz gegolten – danach wurde an der Überlegenheit des menschlichen Gehirns heftig gerüttelt.
Der 11. Mai 1997 war so etwas wie eine historische Zäsur und zugleich eine Art Paradigmenwechsel. An diesem Tag hatte sich gezeigt, dass der vernunftbegabte Mensch offenbar nicht mehr auf allen Gebieten mit modernsten Maschinentechnologien mithalten kann. Bis zu jenem Tag galt der amtierende Schachweltmeister Garri Kasparow, der zwischen 1985 und 2000 15 Jahre lang den Titel für sich beanspruchte, als bester, nahezu unschlagbarer Spieler der Schachgeschichte. Doch gegen 16 Uhr erstarrte er regungslos vor seinem Brett und hatte dabei den Kopf in beide Hände gestützt. Die Welt um ihn herum schien er kaum mehr wahrzunehmen. Immer wieder schüttelte er fassungslos den Kopf, um schließlich wortlos und fluchtartig den Saal im 35. Stockwerk eines Hochhauses in Manhattan zu verlassen. Kasparow hatte gerade die schlimmste Niederlage seiner Karriere erlitten. Nicht etwa gegen einen Konkurrenten aus Fleisch und Blut – seine grauen Zellen hatten gegen die Chips des von IBM mit Millionen Dollar und jahrelanger Manpower entwickelten Super-Schachcomputer Deep Blue den Kürzeren gezogen.
Beim ersten Duell 1996 setzte sich Kasparow noch mit 4:2 durch
Dabei war der russische Großmeister wie immer selbstbewusst und siegessicher in das von IBM als weltweit riesiges Medienspektakel aufgezogene und auf sechs Partien angelegte Turnier gezogen. Dies ging in einem New Yorker Fernsehstudio zwischen dem 3. und dem 11. Mai 1997 vor laufenden Kameras über die Bühne und wurde gleichzeitig via Internet übertragen. Es handelte sich um das zweite Aufeinandertreffen der Kontrahenten, gewissermaßen um eine Revanche. Kasparow und Deep Blue hatten sich im Vorjahr schon einmal bei einem Event in Philadelphia am Brett bekämpft. Kasparow hatte damals bei den sechs Partien mit 4:2 gewonnen. Und das, obwohl er gleich zum Auftakt am 10. Februar 1996 das erste Spiel trotz eines Starts mit seiner Lieblingseröffnung, der Sizilianischen Verteidigung, und einem von einem Schachcomputer völlig unerwarteten Bauernopfer sang- und klanglos verloren hatte. Es war das erste Spiel, dass ein Schachcomputer jemals gegen einen Weltmeister für sich hatte entscheiden können. Kasparow hätte daher vor dem Rematch ausreichend gewarnt sein müssen – zumal IBM Deep Blue in der Zwischenzeit weiter hatte aufrüsten lassen. Doch eine komplette Turnier-Niederlage hatte Kasparow für absolut ausgeschlossen gehalten. Im Vorfeld hatte er daher öffentlichkeitswirksam verlautbaren lassen, die „Ehre der Menschheit" im Duell gegen den schrankgroßen Computerkoloss erfolgreich verteidigen zu wollen.
Kasparow hatte offenbar die richtungsweisenden Fortschritte, die IBM mit Deep Blue gemacht hatte, deutlich unterschätzt. Dessen Software hatte längst die bescheidenen und für Profis bis Anfang der 90er-Jahre keine echte Herausforderung darstellenden Programme, die Schachcomputer-Pioniere in Gefolge eines Alan Turing seit den 50er-Jahren entworfen hatten, weit hinter sich gelassen.
„Es war mein Glück (oder Unglück)", so Kasparow im Rückblick auf sein persönliches Dilemma, „während jener Jahre Schachweltmeister zu sein, in denen die Computer menschliche Spieler herausforderten und schließlich übertrafen. Vor 1994 und nach 2004 erregten die Duelle Mensch gegen Maschine nur wenig Interesse. Davor waren die Rechner zu schwach, danach waren sie zu stark, und dazwischen lag eine rasante Entwicklung. Aber während dieses Zeitraums von etwa zehn Jahren waren die Wettkämpfe ein faszinierender Schlagabtausch zwischen der Rechenleistung der Maschinen und der Intuition und dem Wissen der Großmeister."
Das Duell im Mai 1997 begann für Kasparow sehr vielversprechend, denn er konnte das erste Spiel gewinnen. Dann aber folgte ein Paukenschlag, denn das zweite Spiel ging an Deep Blue, obwohl Kasparow dem Rechner eine Falle gestellt hatte, in die der Computer aus Sicht des Weltmeisters unbedingt hätte hineintappen müssen. Kasparow erhob danach sogleich Vorwürfe eines unerlaubten Eingreifens der IBM-Betreuer ins Spielgeschehen, weil er es nicht fassen konnte, dass seine List nicht funktioniert hatte. Die drei folgenden Spiele endeten Remis, obwohl Kasparow dabei spezielle Anti-Computer-Varianten ausprobiert hatte.
In der entscheidenden letzten Partie hätte Kasparow durchaus noch mal auf Unentschieden gehen können. Doch er wollte unbedingt siegen und damit das Turnier für sich entscheiden. Er ging aufs Ganze und wählte zur vermeintlichen Verwirrung des Gegners eine Eröffnungsvariante, die in der Schachgeschichte fast immer zu einer Niederlage geführt hatte. Das als Antwort nötige Figurenopfer ging Deep Blue zur Überraschung des Großmeisters ein. Danach war die Partie für Kasparow in Windeseile verloren, nach nur 19 Zügen musste er sich geschlagen geben. Eine solch verheerende Niederlage hatte ihm noch kein menschlicher Gegner zufügen können.
Als schlechter Verlierer sprach er anschließend von Manipulation
Deep Blue hatte das Duell damit mit 3,5:2,5 für sich entschieden. Kasparows viel bewunderte Stärken, sein Spielwitz, seine Intuition, seine Dynamik und sein Variantenreichtum hatten nicht ausgereicht, um sich gegen die gewaltige Rechenpower Deep Blues durchsetzen zu können. Der Computer konnte innerhalb von einer Sekunde rund 200 Millionen mögliche Züge ermitteln und erfolgversprechend kalkulieren. Zudem konnte Deep Blue aus einer umfangreichen Datenbank von rund 600.000 gespeicherten früheren Partien, darunter natürlich alle Kasparow-Spiele, schöpfen.
Kasparow war alles andere als ein guter Verlierer. Er versuchte, seine Manipulationsvorwürfe durch Hinweise auf „schlechte Züge" des Rechners zu untermauern, die von einer solchen Maschine nicht zu erwarten gewesen seien und die ihn immer wieder irritiert hatten.
„Nach der Partie war ich schrecklich müde", so Kasparow, „während der Computer nicht einmal wusste, ob er nun gewonnen, verloren oder remis gespielt hatte! Zum ersten Mal habe ich gegen einen Kontrahenten gespielt, der unter meinem Druck nicht zusammengebrochen ist! Ich konnte hinterher kaum schlafen. Die Maschine hingegen leidet nicht."
Der Ausgang des Duells war eine Sensation. Zumal das Spektakel von den Protagonisten der Künstlichen Intelligenz, die das Schachspiel als publikumswirksames Aushängeschild für ihre meist kaum zur Kenntnis genommenen Forschungsobjekte auserkoren hatten, von Anfang an als „Kampf Mensch gegen Maschine" inszeniert worden war. Der Sieg des Schachcomputers weckte in der öffentlichen Diskussion sogleich klassische Ängste vor der Dominanz der Maschine und einer möglichen Entthronung des Menschen als einzig denkendem Wesen.
Es stellte sich die Frage, ob es nur ein Sieg tumber, astronomisch schneller Rechenkraft über das kreative menschliche Genie gewesen war, oder ob im Chip-Hirn Deep Blues erstmals doch so etwas wie das edelste Privileg des Homo sapiens durchgeblitzt war – nämlich so etwas wie Intelligenz. Völlig unklar war, wie sich Intelligenz bei einem Computer überhaupt definieren lassen konnte. Der britische frühe Computer-Pionier Alan Turing hatte schon in den 50er-Jahren postuliert, dass nicht die Art und Weise, wie Gehirn oder Prozessor zu ihren Ergebnissen kommen, entscheidend sei, sondern allein, ob diese sich durch Intelligenz auszeichnen. Der renommierte Schweizer Autor Matthias Zehnder hatte in seinem 2019 veröffentlichten Sachbuch „Die digitale Kränkung" die zunehmende Ersetzbarkeit des Menschen durch Computer abgehandelt: „Weil Schach als Spiel des Verstandes gilt, wird aus dem Sieg des Schachcomputers über Kasparow der symbolische Sieg der Maschine über den Verstand des Menschen."
Heute gegen Künstliche Intelligenz chancenlos
Nachfolger von Deep Blue haben den größten Schachspielern der Welt überhaupt keine Siegchance mehr erlaubt. Das letzte Duell fand 2006 in Bonn statt, wo der Russe Vladimir Kramnik, der Nachfolger von Kasparow als Schachweltmeister, dem Schachcomputer „Deep Fritz" mit 2:4 unterlegen war. Danach wurde die Überlegenheit der Prozessoren so gewaltig, dass auch der aktuelle Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen keinen Sinn mehr an einem ungleichen Kräftemessen bekundet hatte: „Ich hätte keine Chance." Ins gleiche Horn blies Garri Kasparow: „Heute haben Sie mit jeder kostenlosen Schach-App auf Ihrem Smartphone mehr Power als Deep Blue."
Bis 2017 galt die Software „Stockfisch" als das weltweit stärkste Schachprogramm – bis ihm durch die Künstliche Intelligenz „Alpha Zero" der Google-Tochter Deep-Mind eine vernichtende Niederlage zugefügt worden war. „Alpha Zero" verfügte über umfangreiche künstliche neuronale Netze und einen Algorithmus, der nur noch die wahrscheinlichsten Spielsituationen durchgerechnet hatte. Die Künstliche Intelligenz konnte sich das perfekte Schachspiel nach Eingabe der Regeln durch Spielen gegen sich selbst innerhalb weniger Stunden aneignen und zudem auf das dem menschlichen Gehirn vertraute Prinzip des verstärkenden, mit Belohnungen oder Strafen verbundenen „verstärkenden Lernens" zurückgreifen. Mit „Mu Zero" hat Deep-Mind jüngst den „Alpha Zero"-Nachfolger präsentiert, der sich das Schachspiel sogar ohne Regel-Vorprogrammierung selbstständig beibringen kann.