Im Saarland ist die einzige Alleinregierung einer Partei in Deutschland seit wenigen Tagen im Amt. Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) über Herausforderungen und Ziele, einen „Ermöglichungsminister" und warum sie bei Regierungserklärungen keine Parteiprogramme vorliest.
Frau Rehlinger, ist die Anrede Ministerpräsidentin noch gewöhnungsbedürftig?
Ich habe die Anrede natürlich schon gehört im Saarland. (lacht) Jetzt gilt sie für mich. Das ist in der Tat noch ein bisschen gewöhnungsbedürftig.
Für Sie ist vieles aus der bisherigen Arbeit nicht fremd. Was hat sich jetzt verändert mit Ihrem Wechsel in die Staatskanzlei?
Wege, Räume und Örtlichkeiten sind mir alle bekannt – aber die Perspektive hat sich trotzdem geändert. Ich muss jetzt nicht nur für ein Ministerium die Richtung vorgeben, sondern für die Landesregierung und damit auch dem Land Orientierung bieten. In der Kabinettssitzung sitze ich jetzt eben auf der anderen Seite des Tisches.
… und mit einigen neuen Gesichtern zusammen. Mit der ein oder anderen Besetzung war gerechnet worden, aber es gab auch eine Überraschung mit Jakob von Weizsäcker. Was kommt auf den neuen Finanzminister zu?
Er ist ein ganz wichtiger Baustein, wenn es um die wichtigste Frage in diesem Land geht, nämlich Arbeitsplätze zu erhalten, neue zu schaffen und den Strukturwandel zu gestalten. Insofern muss er mithelfen, Geld auch von außerhalb für das Saarland zu organisieren. Das mache ich mir natürlich auch zur Aufgabe. Mit ihm, der bestens vernetzt ist in Berlin aber auch in Brüssel, habe ich eine wunderbare Verstärkung im Kabinett. Und zum Zweiten geht es darum, mit dem Geld, das uns zur Verfügung steht, die richtigen Prioritäten zu setzen und Zukunftsinvestitionen zu ermöglichen. Insofern habe ich sehr gerne von ihm gehört, dass er das Finanzministerium bei aller Disziplin, die immer geübt werden muss, auch als Ermöglichungsministerium sieht. Ich finde, das ist eine spannende Arbeitsplatzbeschreibung.
Gehört dieser „personelle Import" zur Strategie, wieder eine Million Saarländer zu werden?
(lacht) Auch. Jakob von Weizsäcker ist ja nicht nur „auf Montage" hier, sondern trifft die sehr gute und kluge Entscheidung, dass er sich und seine Familie zu Saarländern macht. Ich hoffe aber vielmehr, dass er durch seine Arbeit mit dazu beiträgt, dass wir unserer Vision, wieder eine Million Saarländerinnen und Saarländer zu werden, in den nächsten fünf Jahren näherkommen.
Diese Zahl von einer Million steht ja symbolisch für ihr Programm. Dazu gehören auch die 400.000 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, die Sie als Ziel im Wahlkampf und in Ihrer Regierungserklärung genannt haben. Einigen ist aufgefallen: Die Regierungserklärung war nicht eins zu eins das Wahlprogramm.
Es gibt ganz, ganz viele Felder und Lebensbereiche, in denen wir in den nächsten Jahren anpacken müssen. Ich habe darauf verzichtet, das Regierungsprogramm der SPD eins zu eins zu verlesen, und im Anhang auch noch das der CDU. Ich habe die Leitlinien vorgestellt, mit denen die neue Landesregierung ans Werk geht und die wesentlichen Herausforderungen skizziert, vor denen unser Saarland steht. Wir müssen Arbeitsplätze erhalten und zugleich neue schaffen. Wir müssen Bildungschancen für alle bieten und mit Klimaschutz und erneuerbaren Energien unseren Planeten erhalten. Wir brauchen Fortschritte im Bereich der Pflege, um diese voranzubringen. Als Ministerpräsidentin will ich führen, Schwerpunkte setzen und Orientierung bieten. Das Regierungsprogramm der SPD kann jeder selbst lesen.
Für die Umsetzung des Hauptziels soll eine Stabsstelle in der Staatskanzlei eingerichtet werden. Wie soll die im Arbeitsalltag der Regierung funktionieren?
Ich werde als Ministerpräsidentin natürlich nicht das operative Geschäft des Wirtschaftsministeriums übernehmen. Das weiß ich bei Jürgen Barke (Anm.: neuer Wirtschaftsminister) in allerbesten Händen. Beim Strukturwandel geht es aber um mehr. Ich habe angekündigt, dieses Thema zur Chefinnensache zu machen und das will ich, indem ich die Saarland-Strategie koordiniere, Impulse gebe und mit den Fachministerien eng abstimme, wie wir als Landesregierung Zukunft schaffen können. Deshalb geht es nicht nur um die Stabsstelle als Arbeitseinheit, sondern auch um ein Strukturwandelkabinett, in dem in regelmäßigen Abständen die Themen, die für den wirtschaftlichen Wandel relevant sind, beleuchtet werden. Jetzt kann man sagen: Das sind alles nur Strukturen. Aber je besser die Strukturen und je klarer die ausgerichtet sind, desto mehr Gewähr hat man, dass das Arbeitsergebnis gut ist. Da geht es nicht nur ab und zu um eine Showveranstaltung, sondern darum, dauerhaft gute Arbeit zu organisieren.
In den Ministerien gibt es teils neue Zuschnitte und andere Aufgabenverteilung. Mit welcher Absicht?
Ich habe ein Kabinett der Verantwortung für die Zukunft gebildet. Zuschnitt und Personen sind an den Herausforderungen ausgerichtet, vor denen unser Land steht. Im Wirtschaftsministerium geht es jetzt darum, die Unternehmen gut betreuen zu können, in der Person von Jürgen Barke, aber auch unterstützt durch die Staatssekretärin, die in viele Unternehmen reingeschaut hat, und sich auf Zukunftsfelder wie Technologie und Digitalisierung, die wieder im Wirtschaftsministerium angesiedelt sind, konzentrieren können. Dazu die bewusste die Entscheidung, Energie beim Wirtschaftsministerium zu belassen, weil wir gerade in diesen Tagen erleben, wie sehr Energie auch Wirtschafts- und Strukturpolitik ist. Es gibt auch wieder einen Wissenschaftsminister und nicht wie bisher eine Mitbetreuung aus der Staatskanzlei. Dabei geht es neben Forschung und Lehre auch darum, echten Effekt für den Wirtschaftsstandort zu erzeugen. Gleichzeitig wird das Thema Europa wieder in der Staatskanzlei angesiedelt, um konzentriert eine Vertretung nach außen zu organisieren, für die Großregion, aber auch Europa insgesamt. Der andere große Bereich im Rahmen des Strukturwandels ist Arbeit. Weiterbildung, Qualifizierung und die notwendigen Instrumente dafür etwa in Zusammenarbeit mit der BA (Bundesagentur für Arbeit) muss konzentriert bearbeitet werden. Mit Magnus Jung (Minister) und Bettina Altesleben (Staatssekretärin und DGB-Vorsitzende) haben wir eine Idealbesetzung dafür.
Finanzen und Wissenschaft in einer Hand hat für Überraschung gesorgt. In den Hochschulen fanden das manche auf den zweiten Blick vielleicht gar nicht so schlecht.
Finanzen und Wissenschaft zusammenzuführen hat vor allem etwas mit der Person zu tun. Jakob von Weizsäcker ist dafür sehr, sehr gut geeignet. Was mögliche Erwartungen angeht: Der Wissenschaftsminister kann für diesen Bereich natürlich nicht spendabler sein als in anderen. Von Weizsäcker ist als Person, die ja auch über mehrere Hochschulabschlüsse verfügt und im Ausland unterwegs war, jemand, der sicher gute Impulse setzen wird.
Die ersten Dinge, die jetzt angepackt werden sollen, sind im Grunde Umsetzung von Wahlversprechen.
Natürlich. Wofür wir geworben haben, das halten wir für richtig und wertvoll für unser Land. Dafür haben wir bei der Landtagswahl Unterstützung bekommen. Beispiel Kita-Gebühren: Das ist eine weitere Entlastung der persönlichen Familienkasse, das 365-Euro-Ticket für junge Leute ebenso. Die Frage G8/G9 war von uns immer beantwortet, wir hätten es von uns aus längst haben können. Ich glaube, je schneller man dort jetzt für Klarheit sorgt, umso besser. Also: Wir sagen, was wir tun, und tun, was wir sagen.
Die großen Rahmenbedingungen mit Struktur- und Klimawandel sind klar. Wie kann sich die Regierung auf Entwicklungen wie den Krieg einstellen?
Sowas steht in keinem Wahlprogramm oder Koalitionsvertrag. Man muss als Regierung immer in der Lage sein, sich auf Neues einzustellen. Wir haben das ja erlebt: weder die Finanzkrise, noch Corona, noch der Ukraine-Krieg waren vorher planbar. Jede Regierung muss bereit sein, zu führen und Verantwortung zu übernehmen, auch in unübersichtlicher Lage. Ich bin es. Das heißt genau analysieren: Was traue ich mir als Land zu, was ist mein Beitrag? Und den bin ich dann aber bereit zu leisten. Und was sind Rahmenbedingungen, auf die man gar keinen oder nur mittelbar Einfluss hat? Natürlich können wir im Saarland nicht über Krieg und Frieden in der Ukraine entscheiden, aber wir können mit- entscheiden, wie groß die Auswirkungen des Krieges hierzulande sind, von dem ich hoffe, dass er bald zu Ende sein wird. Wie krisenfest kann man sich für so etwas aufstellen? Stichwort Energiesicherheit. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist für den Krieg eine nacheilende, aber für die Zukunft eine vorbereitende Maßnahme, nicht nur aus Klimaschutzgründen, wie wir wissen, sondern aus sicherheitspolitischen Gründen, auch aus wirtschaftlichen Gründen. Der russische Angriffskrieg zeigt ganz klar, dass wir da massiv schneller werden müssen.
Inwiefern ist das Saarland als Exportland von den unterschiedlichen Entwicklungen von Brexit über Corona bis jetzt zum Krieg besonders betroffen?
Natürlich sind wir besonders betroffen. Aber nicht nur im negativen Sinn. Es gibt eine Reihe von negativen Aspekten als energieintensives Land, was Preise und Versorgungssicherheit angeht. Wenn es aber um Lieferketten geht, kann das auch eine Chance sein: Wenn nach den Erfahrungen Resilienzen aufgebaut werden müssen und es neue, zusätzliche Produktionsstandorte in Europa geben soll und nicht mehr nur in Asien, kann darin auch eine Chance für uns liegen. Oder beim Thema Cybersicherheit. Die Frage der Digitalisierung und wie man sie nutzen kann, hängt maßgeblich davon ab, wie sicher die Anwendung ist. Da ist das Saarland mit IT und IT-Sicherheit, mit Cispa/Helmholtz und dem Innovationscampus ein Standort, wo wir aus diesen Entwicklungen sogar noch etwas Positives machen können.
Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang der Draht nach Berlin? Sie haben gesagt, sie hätten die Handynummer von Olaf Scholz.
Und ich nutze die auch. Er umgekehrt aber übrigens auch. Natürlich hilft es, wenn man in Berlin gut vernetzt ist, um saarländische Interessen auch zu vertreten und durchzusetzen. Viele Aufgaben werden wir aber nicht allein hinbekommen. Da ist ein kurzer Draht zum Kanzler ganz gut, wenn man die Strukturwandel-Aufgaben im Saarland sieht. Das ist bei uns früher und tiefgreifender als in allen anderen Regionen Deutschlands. Gleichzeitig ist das Land jetzt von einer SPD-Alleinregierung geführt. Wenn der Strukturwandel hier gelingt, dann ist das auch ein Anwendungsbeispiel dafür, was Olaf Scholz meint, wenn er von einem sozialdemokratischen Jahrzehnt spricht.
Wie verändert der Gewinn der absoluten Mehrheit im Parlament und damit die Alleinregierung die Partei?
Das Ergebnis der Bundeswahl und jetzt der fulminante Erfolg bei der Landtagswahl sind natürlich pure Freude und bringen auch Selbstbewusstsein. Die SPD kann Wahlen gewinnen. Und wie! Auf kommunaler Ebene waren wir im Saarland immer sehr erfolgreich, wir haben auch jetzt bereits die Kommunalwahl 2024 im Blick. Natürlich stellt so eine Alleinregierung neue Anforderungen. Auch an die SPD. Sie muss gesellschaftliche Gruppen und Meinungen einbinden und ihnen Stimmen geben, die sich nicht im Parlament wiederfinden. Eine Alleinregierung muss nicht einsame Entscheidungen treffen. Das gilt für andere Parteien, auf deren Argumente wir gerne hören, und wenn sie überzeugen, aufnehmen. Wir bleiben überzeugbar. Um die gesamte Breite unserer Gesellschaft als echte Volkspartei abzubilden, haben wir gute Voraussetzungen. Die SPD hat die jüngste Fraktion mit dem höchsten Frauenanteil.
Ist zu erwarten, dass diese Fraktion die Regierungsarbeit mitträgt, oder eigene Lebendigkeit entwickelt?
Ich erwarte beides, und zwar in guter Abstimmung. Die Fraktion in ihrer Zusammensetzung mit Ulrich Commerçon an der Spitze soll auch in Zukunft ein programmatisches Kraftzentrum für die Sozialdemokratie sein und zusammen mit der Partei auch über den Regierungsalltag hinaus Lösungsansätze entwerfen, also ein kommunikativer Ort, neben dem, was die Regierung an Beteiligung organisiert. Mir ist nicht bange darum, dass die Abgeordneten hochmotiviert, aber auch hochqualifiziert an die Arbeit gehen. Ich bin sehr beeindruckt davon, wie unsere Fraktion in der ganzen Breite der Gesellschaft aufgestellt ist. Von der Juristin aus der Innenstadt Saarbrückens bis zum Betriebsrat und Industriearbeiter aus Neunkirchen, von Jung bis Nicht-mehr-ganz-so-Jung, Männer und Frauen. Das fällt natürlich mit 29 Abgeordneten auch etwas leichter.
Das Saarland liegt im Herzen Europas. Die direkten französischen Nachbarn haben zuletzt aber nicht mehrheitlich proeuropäisch abgestimmt. Was ist davon zu halten?
Das ist ein lautstarkes Alarmzeichen und gibt uns zu denken. Das gibt allen Freundinnen und Freunden eines friedlichen Europas den klaren Auftrag, für noch mehr Miteinander zu sorgen, die unschätzbaren Vorteile, die die Großregion mit sich bringt, weiter auszubauen und sichtbar zu machen, aber dabei auch deutlich zu machen, dass all das seine Grundlage darin hat, dass es dieses Europa gibt.
Die grenzüberschreitende Großregion ist im Alltag vielfach Lebensrealität, gleichzeitig aber für viele immer noch ein intellektuelles Projekt. Wie kann man mit dieser Widersprüchlichkeit umgehen?
Ich will das nicht gegeneinander stellen. Am Ende braucht es schon die große Idee. Denn wenn wir uns im Klein-Klein verlieren und die große Idee fehlt, dann wird es nicht gut. Es braucht aber natürlich all das, was es konkret erlebbar macht, den Abbau von Hemmnissen, den grenzüberschreitenden Verkehr, der einfach zu benutzen ist und einiges mehr. Was uns hier in der Grenzregion gut gelingt, hilft Europa insgesamt. Das gilt für das Kulturelle, aber es gibt jetzt auch die Chance, etwas Grenzüberschreitendes zu machen in einem Bereich, wo sich die Menschen immer schon zusammengehörig fühlen, im Sport. Die Olympischen Spiele 2024, die quasi vor unserer Haustür in Paris stattfinden. Darin kann eine Riesenchance für die gesamte Region stecken, für den Tourismus, aber auch für den Sport nach der Corona-Zeit. Es gibt ganz viele Anknüpfungspunkte, wo man zeigen kann: Da spielen Grenzen keine Rolle.
Ihre Regierung ist seit ein paar Tagen im Amt. Eine Erfahrung lehrt, dass neue Regierungen notwendige Grausamkeiten gleich zu Beginn anpacken. Welche Grausamkeiten erwarten uns?
Wir müssen sicher das Bewusstsein für die Schwere der Aufgabe schaffen, vor der wir stehen. Wir müssen aber genauso das Selbstbewusstsein schaffen, dass wir das gemeinsam schaffen können. Zur Geschichte des Strukturwandels gehört auch, dass das keine Perlenkette von nur guten oder nur schlechten Ereignissen ist. Es wird beides geben. Wichtig ist, dass am Ende etwas Positives steht, vor allem etwas, von dem die Saarländerinnen und Saarländer sagen: Angesichts der Herausforderungen, die wir hatten, sind wir sehr, sehr stolz, dass wir das gemeinsam geschafft haben.