Auch wenn ihm bis heute seine anfänglich dilettantisch-brachiale Grabungsmethode vorgeworfen wird, so gilt Schliemann doch als Begründer der Archäologie als Spatenwissenschaft. Um seine Hauptentdeckung tobt weiterhin ein Forscher-Streit.
Noch heute zieht sich der sogenannte Schliemann-Graben mit seinen enormen Ausmaßen von 40 Metern Länge, 20 Metern Breite und 17 Metern Tiefe wie eine Schlucht durch die archäologische Fundstätte auf dem Hisarlik-Hügel. Ursprünglich wollte Schliemann hier sogar komplett Tabula rasa machen, wie er seinem anfänglichen Mitstreiter Frank Calvert brieflich schon im Dezember 1868 mitgeteilt hatte: „Ich bin nun fest entschlossen, den ganzen künstlichen Hügel von Hisarlik abzutragen." Für ihn stand außer Frage, dass das von ihm gesuchte Troja nur auf dem untersten Level des Hügels zu finden sein konnte, gewissermaßen als Bestandteil der Ur-Scholle. Alle darüber liegenden Gesteinsschichten, auch wenn sie womöglich für die spätere Forschung hochbedeutende Relikte enthalten konnten, waren für Schliemann nicht von Interesse. Auf Vermittlung Calverts ließ er sich modernste Grabungswerkzeuge besorgen und machte sich Gedanken über weiteres Zubehör, das er für die gewaltige Aufgabe womöglich benötigen könnte: „Soll ich ein Zelt, ein eisernes Bettgestell und Kissen aus Marseille mitbringen? Brauche ich Pistolen, Dolche und Gewehre?"
Höher gelegene Schichten zerstört
In Feldherren-Manier trieb er seine bis zu 250 Arbeiter zum Malochen mit Spaten und Schubkarren an. Sie sollten sich in Windeseile bis zum Grund des Hügels durchwühlen und alles Abraummaterial fortschaffen. Von den zehn beim Graben freigelegten Siedlungsschichten kam es Schliemann nur auf die unterste an, weshalb jene höher gelegenen Schichten mit etwaigen Überresten aus dem meist um 1200 v. Chr. taxierten – falls historischen – Trojanischen Krieg unwiederbringlich verloren gingen. Womöglich wurden dabei auch Keilschrift-Lehmziegel mit weiteren Informationen zerstört.
Das war natürlich eine ziemlich brachiale Ausgrabungsmethode. Späteren, auf die Dokumentation von Fundzusammenhängen abzielenden archäologischen Forschungsarbeiten musste das im Nachhinein wie Hohn vorkommen, und daher wird Schliemann das bis heute von der Wissenschaft vorgeworfen. So berechtigt später der Vorwurf des Dilettantismus an den anfänglichen Amateur-Archäologen Schliemann auch sein mag, so muss doch zu seinen Gunsten berücksichtigt werden, dass er sich an keinerlei professionellen Vorbildern orientieren konnte. Ein Projekt in den Dimensionen des Hisarlik-Unterfangens hatte es zuvor noch nie gegeben.
Wie Schliemann überhaupt der Pio-nier der von ihm selbst so titulierten „Forschung mit Spitzhacke und Spaten" war. Seine neue Spatenwissenschaft, Vorläufer der späteren Feldarchäologie, sollte schnell für Furore sorgen und beispielsweise von dem britischen Archäologen Arthur Evans bei der Erforschung des minoischen Palastes von Knossos übernommen werden. Vor Schliemann war die Archäologie seit den Zeiten ihres Gründungsvaters Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) eine sehr stark kunsthistorisch orientierte Wissenschaft gewesen. Dazu gesellte sich nach und nach das Auffinden und Ausschlachten von Grabmonumenten.
Eine ganze Siedlung aus der verschütteten Dunkelheit der Jahrtausende ins Licht der Gegenwart emporzuheben, kann als Schliemanns Königsidee angesehen werden. Damit war Schliemann, der bei seinen Ausgrabungen nach 1873 wesentlich vorsichtiger und systematischer vorgegangen war, durchaus ein Wegbereiter der modernen Archäologie. Zumal ihm als erster der Nachweis gelungen war, dass soziale und wirtschaftsgeschichtliche Befunde sehr gut mithilfe des Spatens gewonnen werden konnten. Und zudem hatte er als einer der ersten Forscher begriffen, „dass es gar nicht darauf ankommt, möglichst viele Kunstwerke freizulegen, sondern darauf, Objekte zu finden, die dann die Schichten auch datieren können und Kulturzusammenhänge ermöglichen", so Matthias Wemhoff, Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte.
Schon Schliemann war reichlich irritiert darüber gewesen, dass die von ihm vermeintlich ausgegrabene Priamos-Königshauptstadt, die in der „Ilias" meist „Ilios" genannt und nur achtmal als „Troja" bezeichnet wurde, solch kleine Ausmaße gehabt haben sollte. Kaum größer als ein Seeräubernest mit wenigen Steinhäusern und verschlungenen Gassen. Doch Schliemann setzte sich über alle eigenen Bedenken hinweg und deklarierte die Funde gemäß der Homerischen Vorlage beispielsweise als das berühmte „Skäische Tor" oder den Palast des Priamos. Um Größe und damit Bedeutung der Anlage auf dem Hisarlik mit ihrer 4.000-jährigen Besiedlungsgeschichte drehte sich denn auch die sogenannte Troja-Debatte. Die Kontroverse brauchte wegen der unversöhnlichen Schärfe der zwischen, grob gesprochen, Althistorikern auf der einen und Archäologen auf der anderen Seite Vergleiche mit dem „Historikerstreit" nicht zu scheuen. Ausgelöst wurde der wissenschaftliche Disput durch eine von 900.000 Besuchern besuchte Wanderausstellung „Troia – Traum und Wirklichkeit" im Jahr 2001.
Öffentliches Symposium an Uni
Der dafür Hauptverantwortliche war der Tübinger Archäologe Prof. Manfred Korfmann, der seit 1988 die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Ausgrabungen in Troja geleitet und ganz auf den Spuren Schliemanns die These vertreten hatte, dass Homers „Ilias" im Kern tatsächlich historische Ereignisse beschreibe, die sich genau an diesem Ort zugetragen hatten. Gestützt durch eine von ihm bei Grabungen in Troja freigelegte Unterstadt und der Interpretation des früheren Schliemann-Areals als zugehörige Akropolis, präsentierte er bei der Ausstellung ein Modell, das eine zum Trojanischen Krieg der „Ilias" passende prähistorische Großstadt suggerierte, die als bronzezeitliche Metropole die Handelsströme an den Dardanellen kontrolliert haben sollte.
Pikanterweise war Prof. Korfmanns wissenschaftlicher Gegenpart, der ebenso renommierte Althistoriker Prof. Frank Kolb, ebenfalls an der Tübinger Universität angestellt. Prof. Kolb bezeichnete die These seines Kollegen als „reine Fiktion", Troja sei keinesfalls eine Handelsmetropole, schon gar nicht die von Homer beschriebene Stadt, sondern allenfalls eine dünn besiedelte Streusiedlung gewesen. Später schob Prof. Kolb noch nach, dass die Verhältnisse in Griechenland „zur mykenischen Zeit und im dunklen Zeitalter" keine für eine gemeinsame, in der „Ilias" beschriebene Flottenoperation nötige politische Einheit erlaubt hätten.
Zunächst wurde die Kontroverse in den Feuilletons der wichtigsten hiesigen Zeitungen ausgetragen, wobei die „Welt" zum Sprachrohr des Althistorikers und die „FAZ" zum Medium des Archäologen werden sollte. Am 15. und 16. Februar 2002 wurden die gegensätzlichen Positionen dann im Rahmen eines öffentlichen Symposiums an der Universität Tübingen vorgetragen, wofür sich bald der Name „Troja-Debatte" einbürgern sollte. Ein Kompromiss zwischen den beiden Positionen konnte bis heute nicht gefunden werden. Die meisten populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen folgen jedoch einfach den Thesen von Prof. Korfmann.