Seit Jahren hat Serbien den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Ein Land mit vielen Gesichtern und Widersprüchen. Ein Land im Wandel und auf der Suche. Davon haben sich 15 Saarländer mit der Union Stiftung einen Eindruck verschaffen können.
Belgrad – Wahlplakate: Alle einhundert bis zweihundert Meter riesige Plakatwände mit den Konterfeis von Spitzenkandidaten für den Stadtrat, Abgeordnete, die wieder oder zum allerersten Mal ins nationale Parlament wollen und Kandidaten für das Amt des Präsidenten. Wer Ende März, Anfang April durch Serbien gefahren ist, der hat die unzähligen Parteien und Kandidatinnen und Kandidaten in schneller Abfolge kennenlernen dürfen. Ein Konterfei stach allerdings heraus und blieb auch jenen im Gedächtnis, die kein Kyrillisch lesen oder verstehen können. Kein Kandidat einer der insgesamt drei großen Wahlen, die am 3. April abgehalten wurden, sondern der Präsident der Russischen Föderation: Wladimir Putin. Auf einem Wahlplakat ist er neben einem Kandidaten einer Partei zu sehen. Keine Erklärung. Kein Slogan. Nur der Kandidat und Putin.
Man fährt vorbei, und bevor man genau realisiert, wen man da gerade gesehen hat, sieht man schon die nächsten Kandidaten, als ob nichts passiert wäre: Herzlich willkommen in Serbien.
Doch Serbien als blinden Unterstützer Russlands abzustempeln wäre zu kurz gegriffen.
Serbien zwischen Putin und der EU
„Serbien ist ein Land, das sich in den letzten Jahren unglaublich entwickelt hat, das im Umbruch ist und das Mitglied der Europäischen Union werden möchte. Das wollten wir uns genauer ansehen", sagt Michael Scholl, Geschäftsführer der Union Stiftung. 15 junge Menschen hat die Union Stiftung eingeladen, nach Belgrad zu fliegen, um das Land im Westbalkan kennenzulernen. Die Gruppe landet am Tag der Wahl zum Stadtrat Belgrads, der Wahl zum Parlament und zur Wahl des Präsidenten. Drei Wahlen in einem Lande zwischen den Kulturen, zwischen den Völkern und Ethnien, zwischen den Sprachen und vor allen Dingen zwischen Ost und West.
Wer durch das Zentrum Belgrads spaziert kann diese scheinbare Zerrissenheit zwischen unzähligen Welten mit eigenen Augen sehen: Die Fußgängerzone unterscheidet sich kaum von Fußgängerzonen anderer großer Städte in Europa: H&M neben Deichmann, Petit Bateau und andere kleinere und größere bekannte Mode- und Kleidungsgeschäfte. Dazwischen Bars, Restaurants und Cafés, die Wiener Kaffeehäusern gleichen und den typischen serbischen Kaffee servieren: Mokka oder auch türkischer Kaffee genannt: Ein Erbe des Osmanischen Reiches serviert in einem Erbe des Habsburger Reiches. Die Kirchen sind orthodox, wie in Russland. Die Häuser sind neoklassizistisch oder Barock und erinnern an andere europäische Städte, oder sie stammen aus dem Sozialismus. Heute stehen sie alle friedlich nebeneinander.
Doch es gibt auch Gebäude, bei denen nicht die Architektur für die Vielfalt Serbiens spricht: ein Haus, in dem ein gigantisches Loch über drei Etagen hinweg klafft, schwarzer Beton, nur noch von Stahlträgern am Haus gehalten, droht jeden Moment herunterzufallen: Dieses Gebäude beherbergte einst den Generalstab der jugoslawischen Armee unter Milošević. Die Nato beschoss es 1999 unter Vorankündigung zur Evakuierung mit Raketen, um die Kosovo-Invasion zu beenden. Der Einschlag ist bis heute zu sehen.
Serbien ist heute eine Demokratie, wenngleich eine noch sehr junge Demokratie, mit all den Fehlern und Kinderkrankheiten, die zu einem sich entwickelnden Staat dazugehören. Das Land weiß, was es will und was es als EU-Beitrittskandidat dafür tun muss. Die Hürden für einen Beitritt sind klar: Wirtschaftliche Stabilität, stabile Demokratie sowie ein Ende des Konflikts zwischen Serbien und Kosovo. Letzteres scheint momentan an einem Stillstand angelangt zu sein. Weder erkennt Serbien die Unabhängigkeit des Kosovo an, noch gibt es Versuche Serbiens, den aktuellen Status aktiv zu ändern.
Insbesondere die Wirtschaft aber hat sich in den letzten Jahren unglaublich entwickelt: „Der wichtigste Wirtschaftspartner Serbiens ist die EU", sagt Norbert Beckmann-Dierkes. Er ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Belgrad und betont insbesondere auch die Rolle Deutschlands, die innerhalb der EU neben Frankreich einer der größten Investoren in Serbien ist. „Vor 7 Jahren gab es aus deutschen Investitionen 12.000 Arbeitsplätze", so Beckmann-Dierkes, „Heute sind es 73.000! Und es ist nicht nur die ‚verlängerte Werkbank‘, wie man vermuten möchte, sondern Entwicklung und Produktion."
Die Ambitionen Serbiens werden immer größer und man nimmt sich die EU nicht nur als willigen Geldgeber, Investor und Handelspartner. Serbien hat zusammen mit seinen Nachbarn Nordmazedonien und Albanien auch eine europäische Idee aufgegriffen und umgesetzt, bevor man in der EU ist: Die drei Länder haben mit „Open Balkan", dem offenen Balkan ein Mini-Schengen geschaffen: offene Grenzen, Bürokratieabbau und ein gemeinsamer Arbeits- und Wirtschaftsraum für die Menschen. Europas Ideen sind auch über seine Grenzen hinweg attraktiv und finden Nachahmung. Serbien hat aber auch Probleme: Fachkräfte, gut ausgebildete junge Menschen verlassen das Land. Deshalb versucht man alles, um sie im Land zu halten. Zum Teil mit Erfolg: Die IT-Industrie und die Start-up-Szene in Serbien, insbesondere in Belgrad, wachsen stetig. Ziel sei es, dass „Belgrad die kreative Hauptstadt des Westbalkan wird", verkündet der stellvertretende Bürgermeister Goran Vesić. Mit einem ambitionierten Projekt versucht Belgrad attraktiver zu werden und zu einer modernen, aufstrebenden Metropole für alle Altersschichten auf dem Westbalkan zu werden: „Belgrad 2030" heißt das Projekt.
Start-up-Szene wächst stetig
Der stellvertretende Bürgermeister Belgrads hat die Gruppe aus dem Saarland in das Gewölbe eines alten serbischen Palastes eingeladen, um ihnen seine Stadt und deren Zukunft vorzustellen: ein gigantisches ÖPNV-System mit rein elektrisch fahrenden Bussen, einer neu gebauten U-Bahn-Station und einem integrierten Verkehrsnetz auf dem Fluss. Kitas, Altenpflegeheime und Parks für Jung und Alt in der Stadt. Aber genauso die Förderung und Entwicklung der Landwirtschaft am Rande der Stadt. Insgesamt ist das Projekt auf ein finanzielles Volumen von 14 Milliarden Euro beziffert.
„Die Stadt hat sich in den letzten sieben Jahren radikal geändert", erklärt Norbert Beckmann-Dierkes. So lange ist er bereits in Belgrad und hat diese Veränderungen miterlebt. Er ist als externer Beobachter bei „Belgrad 2030" involviert und wird offen nach seiner Meinung zum Prozess der ehrgeizigen Pläne der Stadt gefragt. Seine Antworten finden auch Gehör.
Doch nicht alles in Serbien und grade in Belgrad ist eitel Sonnenschein: Grundlegende Probleme wie der Bau eines funktionierenden Abwassersystems sowie die ordentliche Beseitigung des Mülls in der Stadt sind ungelöst. Im letzten Winter habe die Mülldeponie vor der Stadt über Tage hinweg gebrannt und die Stadt in einen erbärmlichen Gestank gehüllt. Auch der Smog ist an bestimmten Tagen ein massives Problem. Ein Problem, nicht nur der Großstadt, wie die Gruppe der Union Stiftung bei einem Besuch bei Kommunalpolitikern auf dem Land im Zentrum Serbiens erfährt. Auch hier sind die Mülldeponien sowie insbesondere die Wasserversorgung mitunter die größten Probleme, mit denen man zu kämpfen hat.
Was wieder zurück nach Belgrad, zur Politik und zur Wahl Anfang April führt: Wäre der Ukraine-Krieg nicht gewesen, hätte die amtierende Partei des Präsidenten Aleksandar Vučić, die Serbische Fortschrittspartei, zumindest im Stadtrat von Belgrad gegen oppositionelle Parteien und Gruppierungen verloren, hört man immer wieder. Der Klimawandel ist auch in Serbiens Politik angekommen.
Weder Belgrad noch Serbien insgesamt sind jedoch blind gegenüber den vielen Herausforderungen, die vor ihnen liegen, und die sie zu bewältigen haben. Doch sie gehen all diese Probleme mutig und aktiv an. Das Land ist in der Tat im Wandel begriffen. Und es hat ein Ziel: Es will Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft werden.