Am 14. Mai beginnen die 42. Oberammergauer Passionsspiele. Die Folgen der Pandemie und der Krieg in der Ukraine werden auch bei dem biblischen Spiel für neue Akzente sorgen.
Auch an „Jesus" sind die zweieinhalb Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Das dunkelblonde Haar ist lichter geworden, die ohnehin hohe Stirn scheint dadurch noch höher geworden. Die sanften Augen, die während eines Gesprächs öfter mal in eine unbestimmte Ferne schauen, blicken ernster drein als bei unserem Treffen vor der Pandemie. Damals, 2019, als man in Oberammergau schon die biblischen Bärte wachsen ließ und die Proben für die für 2020 geplanten Oberammergauer Passionsfestspiele anliefen, hatte ich Frederik Mayet, einen der beiden Jesus-Darsteller, vor Ort zum Interview getroffen. An diesem Aprilmorgen sitzt er mir beim Call am Computerschirm gegenüber. Wie die Stimmung in Oberammergau sei, jetzt, da die Premiere des pandemiebedingt um zwei Jahre verschobenen Großereignisses kurz bevorsteht, möchte ich von Mayet wissen. „Nach dem Schock der Absage haben wir auch jetzt bis zuletzt gezittert, dass uns Corona noch einmal einen Strich durch die Rechnung machen könnte", sagt der Mann, der dem Bild, das Künstler unterschiedlicher Epochen der Welt vom biblischen Gottessohn gegeben haben, in verblüffender Weise entspricht. Jetzt aber mache sich Optimismus breit in Oberammergau, und Erleichterung im ganzen Ort – bei den Gastronomen und Hoteliers natürlich, die bis in den Herbst hinein mit Hunderttausenden Gästen aus dem In- und Ausland rechnen.
400 Jahre Passionsspieltradition
Für Darsteller und Darstellerinnen, vor allem für diejenigen, die – wie Jesus, Maria, die Apostel und die Hohenpriester – größere Rollen bekleiden, bringt die fünf Monate lange Festspielsaison einen besonderen Einschnitt, eine Auszeit vom normalen Leben. Wer angestellt ist, muss sich vom Arbeitgeber monatelang beurlauben, Selbstständige müssen ihre professionellen Aktivitäten ruhen lassen. Am Ende werden sie eine Aufwandsentschädigung erhalten, mit denen die Lebenshaltung gerade so bestritten werden kann. „Für viele ist das alles andere als einfach", weiß Mayet. Er selbst kann zwar die Rolle als Jesus mit seiner Arbeit als Pressesprecher der Passionsspiele gut vereinbaren. Auch mit seinem regulären Arbeitgeber gibt es keine Probleme. Denn Mayet ist im „richtigen" Leben am Münchner Volkstheater beschäftigt, dem Haus, das von Christian Stückl, dem Leiter der Passionsfestspiele, geleitet wird.
Rochus Rückel, der zweite Jesus der Festspielsaison 20/22, ist Student der Luft- und Raumfahrttechnik. Schon einmal hat er sein Studium abgebremst, um sich auf die große Rolle vorzubereiten, für die er beim Casting schon 2018 ausgewählt wurde. Teil der Passion zu sein, wie es die fast 400-jährige Passionsspieltradition in seinem Heimatort Oberammergau verlangt, ist für Rückel selbstverständlich. Schon als Junge hat der heute 26-Jährige bei den großen Volkszenen der Passion, bei denen Hunderte Kinder dem Messias zujubeln, mitgemacht. Nun wird er im Wechsel mit Mayet an rund 50 von insgesamt 103 Spieltagen den jeweils fünf Stunden währenden, kräftezehrenden Passionsmarathon durchstehen. Auch der inzwischen 88-jährige Peter Stückl ist 2022 mit von der Partie. Ihn hatte die Absage der Passion vor zwei Jahren „regelrecht ins Mark" getroffen, fürchtete er doch, 2022 als Endachtziger seiner Hohenpriester-Rolle nicht mehr gewachsen zu sein. „Einen der jüngeren Darsteller, einen Apostel, mussten wir allerdings ersetzen", sagt Mayet. „Der hat inzwischen eine Ausbildung bei der Polizei begonnen, die er nicht unterbrechen kann."
Auch wenn es personell nicht viele Veränderungen gab, wird sich die Passion 2022 von der für 2020 geplanten Inszenierung in wichtigen Nuancen unterscheiden. Die Welt sei eine andere geworden, habe nicht nur die Ausnahmesituation und die Folgen der Pandemie erlebt, so Mayet. Man spiele jetzt in einer Zeit, in der auf europäischem Territorium wieder ein Angriffskrieg wütet und Millionen Menschen auf der Flucht sind. „Das macht etwas mit jedem von uns." Der Jesus, der auf der Festspielbühne 2022 von den Leiden der Menschen und dem himmelschreienden Unrecht spricht, müsse ein lauterer Jesus sein – viel lauter und wütender, als es der Jesus von 2020 gewesen wäre.
Veränderungen, Anpassungen, neue Akzente und grundlegende Reformen begleiten die fast 400-jährige Geschichte der Oberammergauer Passion. Die Tradition geht auf das Jahr 1633 zurück. Damals wütete die Pest in weiten Teilen Europas. Auch in dem oberbayerischen Dorf waren Dutzende Bewohner an der Seuche gestorben. In ihrer Verzweiflung flehten die Oberammergauer Gott um Beistand an und legten ein Gelübde ab. Sollte ihr Dorf fortan von der todbringenden Krankheit verschont bleiben, würde man zu Ehren Gottes die Passion Christi, die das Fundament des christlichen Glaubens bildet, aufführen. Das Gelübde legten die Altvorderen gleich für alle nachfolgenden Generationen ab.
Da es nach dem Schwur keinen einzigen Pesttoten mehr im Ort gegeben hatte, machten die Oberammergauer bereits im folgenden Jahr ernst. 1634 fanden ihre ersten Passionsspiele statt. Die Bühne dafür wurde auf dem Friedhof, über den Gräbern der Pesttoten, errichtet. Im Laufe der Zeit einigte man sich darauf, das christliche Laienspiel, bei dem ein Großteil der Dorfbewohner involviert war, alle zehn Jahre aufzuführen – stets am Beginn einer neuen Dekade. Bis auf wenige Ausnahmen blieb es bei diesem Rhythmus, doch nicht immer stieß das Tun der Oberammergauer Laienspieler auf die Zustimmung der Zeitgenossen. So sprach anno 1770 der Geistliche Rat des bayerischen Kurfürsten ein Verbot der Spiele aus. Text und Aufführungspraxis entsprächen nicht der Würde des Themas, so die Begründung.
Verbot der Spiele und harsche Kritik
Fast 200 Jahre später, nach der Ermordung von Millionen von Juden durch Nazi-Deutschland, übten jüdische Intellektuelle wie Arthur Miller und Leonard Bernstein harsche Kritik. Sie verurteilten die stereotype Darstellung der Juden auf der Oberammergauer Bühne als antisemitisch. Ende der 1960er-Jahre schaltete sich die Katholische Kirche ein, forderte die Spielleitung zu Reformen auf. Auch in Oberammergau müsse die Darstellung der Passion mit der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach die Juden nicht schuld am Tod von Jesus seien, in Einklang gebracht werden. Nachdem sich die Spielleitung weiter stur stellte, distanzierte sich der Vatikan von der Oberammergauer Passion.
Mit dem Oberammergauer Christian Stückl, der die Leitung des Traditionsevents 1990 übernahm, kam eine Zeitenwende. Er machte Schluss mit den antisemitischen Klischees. „Die Passion ist eine durch und durch jüdische Geschichte. Das klarzumachen war mir von Anfang an wichtig", sagt Stückl, der unter anderem bei den Salzburger Festspielen, an der Staatsoper Hamburg und am Schauspielhaus Zürich inszeniert hat. Der Theatermann hat es zur Tradition gemacht, mit seinen beim großen Casting ausgewählten Hauptdarstellern und Hauptdarstellerinnen, die der Tradition zufolge geborene oder zumindest zugezogene Oberammergauer sein müssen, im Jahr vor der Passion nach Israel zu reisen. So sollen die Mitwirkenden mehr Verständnis für die jüdische Religion mit nach Hause und auf die Bühne bringen.
Der Jesus von 2022 wird also lauter und energischer sein, als er in Stückls Inszenierungen je war. Aber ist es nicht deprimierend, die Botschaft des biblischen Friedensfürsten auf die Bühne zu bringen, wenn die Welt auch 2.000 Jahre nach seinem Wirken und seinem Kreuzestod keine bessere geworden ist? Meine Frage lässt den Oberammergauer Jesus auf dem Laptopschirm noch melancholischer in die Ferne blicken. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse an die Kraft der christlichen Botschaft zu glauben, sei nicht leicht, sagt Mayet und fügt dann mit fester Stimme hinzu: „Ich bin aber fest davon überzeugt, dass der Glaube jedem Einzelnen auch in sehr schwierigen Zeiten Hoffnung geben kann. Und Hoffnung brauchen wir zum Leben."