Wer die Vielfalt der USA erleben möchte, steigt am besten in den Nachtzug. Eine Reise mit Polizeieinsatz, Mikrowellen-Essen und „Stretch Stops", bei denen sich niemand bewegt.
Wo ist er bloß? Panisch mustert die Frau in Wagen 13 ihr Abteil. Eigentlich fehlt es an nichts: zwei Sitze, die sich zu einem Bett zusammenschieben lassen, ein kleines Waschbecken, Handtücher, Klapptisch und sogar eine eigene Toilette, direkt neben dem Sitz. Doch für all das hat die Dame keine Augen. „Wo ist bloß der USB-Anschluss?", ruft sie in den Gang, noch bevor der Zug überhaupt losgefahren ist.
James Thomas, der Schaffner, eilt zu Hilfe: „Sorry, Ma’am, das ist der ‚Silver Star‘. Hier können wir nur mit Steckdosen dienen." Die Frau nickt, stöpselt ihr Handy ein und zieht die Vorhänge zu. Die nächsten Stunden wird man nichts mehr von ihr hören, mit Ausnahme der Klospülung.
Über 32 Stunden dauert die Fahrt
Es ist Montagvormittag, 11.10 Uhr, als sich der „Silver Star" in Bewegung setzt. 15 Waggons, 300 Passagiere, Spitzengeschwindigkeit 200 km/h. Noch aber rollt er gemächlich über die Gleise, Startpunkt: New York, Pennsylvania Station. Hochhäuser sind nicht zu sehen, weil der Zug die Metropole durch einen Tunnel verlässt. Das Ziel: Florida. Über 32 Stunden wird die Fahrt bis Miami dauern, 2.000 Kilometer, in denen sich nicht nur Landschaften und Temperaturen rapide ändern. Ob Fabrik oder Bauernhof, Glanz oder Gosse – am Fenster des „Silver Star" zieht Amerika in all seinen Facetten vorbei.
„Nach einer solchen Tour brauche ich immer einen Tag, um mich zu erholen", erzählt James Thomas. An Bord kontrolliert er nicht nur Fahrkarten, sondern verstaut Gepäck, serviert Essen, macht Betten, putzt Toiletten, bespaßt Kinder und weist Corona-Leugner auf die Maskenpflicht hin. Seit 28 Jahren macht er diesen Job, auf seiner Krawatte ist die Zahl 1971 eingestickt: das Gründungsdatum des staatlichen Bahnkonzerns Amtrak. „Wirklich verändert hat sich seitdem eigentlich nichts", sagt der 57-Jährige. „Wir haben jetzt W-Lan und mehr Steckdosen, aber die meisten Wagen gab es schon, als ich angefangen habe."
Was auch schon zu einem Grundproblem des Bahnreisens in den USA führt: Mit der romantischen Vorstellung kann die Realität nicht immer mithalten. Die Außentüren des „Silver Star" lassen sich per Türklinke öffnen, in vielen Waggons flackern Neonröhren an der Decke. Wenn die Aluminium-Hülle in der Sonne glänzt, wirkt der silberne Koloss hübsch und zeitgemäß, doch schon in Washington ist es vorbei mit der Moderne: Der bisherige Triebwagen wird gegen eine Diesellok getauscht; die restliche Strecke ist nicht elektrifiziert.
Beim Bahnnetz sieht es nicht besser aus. Amtrak verbindet vor allem die Ballungsgebiete an den Küsten der USA; manche Bundesstaaten werden nicht mal durchquert. Immerhin, es ist Besserung in Sicht: Das neue Infrastruktur-Gesetz der Biden-Regierung lässt 66 Milliarden Dollar in das marode Eisenbahnnetz fließen. Auch neue Streckenabschnitte sind geplant. Bis 2035 sollen Phoenix, Nashville und Las Vegas angebunden werden – alle sind Metropolen, die bisher ohne eigenen Bahnanschluss auskommen mussten. Joe Biden, der als Senator täglich per Zug zur Arbeit gependelt ist, schwärmt schon lange von der Rückkehr der Eisenbahn.
Im „Silver Star" ist diese Zeitrechnung noch nicht angebrochen. Die meisten Einzelabteile stammen aus dem Jahr 1993. Sie haben so viele Passagiere kommen und gehen sehen, dass man lieber nicht so genau zwischen die Sitze schauen möchte. Trotzdem mögen sie viele Fahrgäste lieber als die vor zwei Jahren eingeweihten neuen Schlafwagen. „Die haben nämlich keine Einzeltoiletten", sagt Thomas. „Und das ist gerade älteren Leuten wichtig."
Wer keine Maske trägt, fliegt raus
In Baltimore kommt die Polizei an Bord. Ein Mann, der partout keine Maske tragen will, muss aussteigen. „Da verstehen wir keinen Spaß", ermahnt der Zugführer die anderen Fahrgäste per Lautsprecher. Auch beim Blick aus dem Fenster ist die Lage ernst: Obdachlose am Bahnhof, Häuser mit eingefallenen Dächern, Schlaglöcher so groß wie Meteoritenkrater. Die Metropole Baltimore hat wahrlich schon bessere Zeiten gesehen. „We Have Jobs", steht auf einem Banner, das an einer Lagerhalle flattert. Ringsherum Müll und Graffiti. Schallschutzwände gibt es so gut wie nie.
13 Uhr. „Lunchtime" im Speisewagen. Zur Auswahl stehen: Nudeln mit Hackbällchen, Enchiladas, sautierter Lachs mit Jasminreis oder „Chicken à la Rosa". Das Piepsen der Mikrowelle offenbart, was sich hinter den kulinarischen Verheißungen verbirgt: in Plastikschalen erwärmte Fertigkost, serviert mit Getränken (ebenfalls im Plastikbecher), ummantelt von einer Pappschachtel mit aufgedruckter Eisenbahn. Tischdecken und Porzellan sucht man vergeblich; stattdessen stehen mehrere Mülltonnen im Speisewagen. John Toben, ein 60-jähriger Brite, der zum Start einer Weltraumrakete nach Florida fährt, lupft den Deckel seiner Nudelbox. Er lacht: „Vom Essen her ist das nicht der Orient Express, sondern ein Flugzeug."
Doch die Meinungen dazu gehen durchaus auseinander. Ellen Stange, 75, teilt sich mit ihrem Mann das Hähnchengericht. „Gar nicht schlecht", findet die rüstige Dame. Auch sonst hat es ihr der Zug angetan. „Man kann sich bewegen, zwischendurch was essen und trifft unterwegs nette Leute. Außerdem geht es viel schneller als mit dem Auto." Um ihre Enkelin zu besuchen, braucht sie mit dem Zug sechs Stunden – deutlich weniger als mit dem Auto. Und der Komfort? „Also wir haben Platz", sagt die Rentnerin. „Die neuen Abteile sind wirklich schön."
Nicht alle an Bord können sich einen solchen Luxus leisten. Wer aufs Geld schauen muss, kommt schon für 150 Dollar von New York nach Florida, muss aber auch zwei Tage im Großraumabteil sitzen – oder nimmt gleich das oftmals günstigere Flugzeug. Im Einzelabteil kostet die Fahrt locker das Vierfache, in einer „Suite" mit WC und eigener Dusche sogar über tausend Dollar. Während der langen Fahrt treffen die verschiedenen Welten nur selten aufeinander. Allein im Speisewagen sitzen alle über den gleichen Mikrowellengerichten zusammen – wenn sie denn wollen. Zu Pandemie-Zeiten wird das Essen auf Wunsch auch am Platz serviert.
In Richmond, Virginia, hält der Zug für zehn Minuten, ein sogenannter „Stretch Stop", bei dem sich die Fahrgäste die Beine vertreten sollen. In der Realität bleiben fast alle an Bord. Diejenigen, die aussteigen, verspüren nicht etwa den Drang nach Bewegung, sondern nach Tabak. So auch John Toben, der Brite. Ihn plagt der Gedanke an die bevorstehende Nachtfahrt. „Ich hab’ gar nichts gegen Übelkeit dabei", sorgt sich der Senior. Prompt lädt ihn Schaffner James in den Speisewagen ein: „Trink ein Bier! Das hilft mehr als jede Pille."
Alle erwachen in einer neuen Welt
Ein paar Minuten später rollt und tutet der „Silver Star" wieder, 70 Meilen pro Stunde, dem Sonnenuntergang entgegen. Allmählich wird es ruhiger an Bord, Vorhänge schließen sich, Sitze werden zu Betten, die Schlösser der Einzelabteile klacken. „It’s quiet time", lautet die letzte Durchsage des Zugchefs, in der er verkündet, auf was die Fahrgäste jetzt alles verzichten sollen: laute Musik, Ballerspiele, Telefonate, Herumgerenne und Gelächter. Doch die Ermahnung ist gar nicht nötig. Außer dem Quietschen der Bremsen und gelegentlichen Klospülungen ist nichts zu hören.
Am nächsten Morgen erwachen alle in einer neuen Welt. Plötzlich sind die Straßen von Palmen gesäumt, Spanisches Moos hängt von den Bäumen. Beim Stopp in Jacksonville, Florida, ist es 15 Grad wärmer als in New York, obwohl die Sonne gerade erst aufgeht. Der Duft des Südens liegt in der Luft – und jener von Zigaretten, die in der Dämmerung glimmen. „Ich habe richtig gut geschlafen", berichtet John Toben, ganz ohne Übelkeit oder andere Wehwehchen. „Als ich um halb sechs aufgestanden bin, blockierte schon ein anderer Mann die Dusche. Zum Glück war danach noch warmes Wasser da."
Die Fahrt im „Silver Star", sie ist nicht für jeden etwas. Es gibt diejenigen, die sofort ihre Vorhänge schließen und zwölf Stunden lang aufs Handy starren. Und es gibt die anderen, die Lust haben auf fremde Menschen, Mini-Duschen und Mikrowellen-Nudeln. Zu welcher Gruppe man selbst gehört, weiß man meist erst hinterher. Justin Rivers, ein 43-jähriger New Yorker, bringt es auf den Punkt: „Die meisten Amerikaner träumen davon, Amtrak zu fahren – jedenfalls so lange, bis sie es einmal getan haben."