Tschernobyl und Fukushima werden häufig in einem Atemzug genannt. Dabei belegen schon allein die zehnfache Menge an freigesetzter Strahlung und die kaum bezifferbare Zahl der an radioaktiven Spätfolgen Erkrankten, dass die Katastrophe in der Ukraine weitaus gravierender war.
Auch wenn die Reaktor-Unfälle von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 auf der 1989 etablierten internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) beide mit der Höchststufe 7 klassifiziert wurden, lassen sie sich nicht auf einem gemeinsamen Level ansiedeln. Höchststufe 7 steht für die gravierendste Freisetzung radioaktiver Stoffe mit Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld. „Fukushima war eine Katastrophe – Tschernobyl war aber zweifellos die größere", so der österreichische Strahlenphysiker Prof. Georg Steinhauser, der 2013 als Mitarbeiter des Department of Environmental and Radiological Health Services der Colorado State University/Fort Collins eine vergleichende Untersuchung der beiden Reaktor-Unfälle durchgeführt hatte und heute an der Uni Hannover am Institut für Radioökologie und Strahlenschutz tätig ist.
Denn bei der freigesetzten Strahlenbelastung und dem Umfang der kontaminierten Regionen und der gesundheitlichen Folgen habe es sich gewissermaßen um zwei unterschiedliche Dimensionen gehandelt. „Die Strahlenbelastung von Fukushima war etwa ein Zehntel von Tschernobyl", so Prof. Steinhauser in seinem im Fachjournal „Science of the Total Environment" veröffentlichten Beitrag. In Tschernobyl betrug die gesamte atmosphärisch freigesetzte Strahlenmenge laut Steinhauser 5.300 Petabecquerel. In Fukushima waren es seinen Berechnungen zufolge dagegen lediglich 520 Petabecquerel, nur ein Zehntel der Tschernobyl-Strahlenmenge. Und da die Windrichtung beim Fukushima-Gau günstig war, wurden laut Steinhauser rund 80 Prozent der Strahlung auf das offene Meer hinausgetragen. Das japanische Festland wurde daher nur von umgerechnet zwei Prozent der Tschernobyl-Strahlenmenge betroffen.
Ganz gravierende Unterschiede gab es laut Prof. Steinhauser auch bezüglich der atmosphärischen Freisetzung von schwerflüchtigen Radionukliden wie Strontium oder Plutonium. Diese hatten sich in Tschernobyl rund um den Havarie-Block in beachtlichen Mengen niedergeschlagen, während sie in Fukushima deutlich geringer waren. Auch in Sachen Kontamination gab es große Unterschiede, da um Tschernobyl rund 30.000 Quadratkilometer als hochbelastet eingestuft worden seien, während es in Fukushima lediglich 2.000 Quadratkilometer waren.
Mehr Folgekrankheiten in Tschernobyl
Und auch aus der Zahl der Toten infolge einer akuten Strahlenkrankheit, die in Tschernobyl auf mindestens 50 taxiert wird, ließ sich Tschernobyl als größere Katastrophe belegen. 2018 erkannte die japanische Regierung erstmals einen Tod infolge des Fukushima-Unglücks an. In Tschernobyl wiesen 237 Personen Symptome des sogenannten akuten Bestrahlungssyndroms auf, was in 134 Fällen bestätigt werden konnte. Davon stammte die Mehrzahl aus dem Kreis der 600.000 bis 800.000 sogenannten Liquidatoren, die ihren Körper beim Versuch der Eindämmung der Katastrophe dem Strahleninferno ausgesetzt hatten. In Fukushima war kein einziger Fall des akuten Bestrahlungssymptoms aufgetreten. Nicht zuletzt deshalb, weil die japanischen Behörden bei der Evakuierung der Bevölkerung und der Überwachung der Lebensmittelsicherheit aus den Fehlern von Tschernobyl ihre Lehren gezogen hatten. Was die gesundheitlichen Langzeitfolgen der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima betrifft, wird es wohl niemals absolute Klarheit geben. Aber auch bei diesen Spätschäden, vor allem Krebserkrankungen, wird Tschernobyl unrühmlich in Sachen Betroffenenzahlen weit vor Fukushima bleiben. Nur bezüglich der Ausbildung von Depressionen, Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder psychosomatischen Erkrankungen gibt es bei Menschen, die die beiden Katastrophen hautnah miterlebt hatten, keinerlei Unterschiede.
Radioaktives Jod oder Cäsium, die über die Atmung oder durch Nahrungsmittel aufgenommen werden können, sind für den menschlichen Körper gefährlich, weil sie sich im Körper anreichern und dadurch Krebserkrankungen, Trübungen der Augenlinse, Leukämie oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen auslösen können. Wobei Jod-131 vor allem von der Schilddrüse absorbiert wird und ohne Gegenmittel wie hochdosierten Jod-Tabletten leicht zur Ausbildung von Schilddrüsenkrebs führen kann. Da die Halbwertzeit von Jod-131 mit rund acht Tagen sehr kurz ist, geht die akute Strahlengefahr jedoch recht schnell vorüber. Cäsium-134 und -137 zerfallen hingegen im Körper, theoretisch überall im Muskelgewebe eingelagert, erst nach 80 beziehungsweise 120 Tagen und können in dieser Zeit das Umfeld schädigen, sodass es zu den genannten Erkrankungen kommen kann.
3,8 MSV pro Jahr in Deutschland
In der Wissenschaft herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass ab einer kurzfristigen Strahlenbelastung (von Tagen oder Wochen) von etwa 500 Millisievert (mSv) akute Schäden wie Haarausfall, Verbrennungen oder Blutarmut folgen und langfristige Folgeerkrankungen wie Krebs entstehen können. Bei einem solch hohen Wert funktionieren die Selbstreparatur-Mechanismen des Körpers nicht mehr, der sich hierzulande nur an die durchschnittliche natürliche Strahlenbelastung von 2,1 Millisievert im Jahr angepasst hat. Dazu können noch etwa 1,7 Millisievert hauptsächlich aus medizinischen Untersuchungen hinzukommen. Damit liegt die maximale Gesamtstrahlungsbelastung einer Person in Deutschland bei 3,8 Millisievert pro Jahr. Bei einem Atomunfall ist es schwer, Grenzwerte für Spätschäden festzulegen. Weil schon geringe Strahlendosen das Erbmaterial verändern können und man dann von sogenannten stochastischen Strahlenschäden spricht, die sich häufig erst viel später bemerkbar machen.
Das Ausmaß der akuten Strahlenschäden konnte sowohl in Tschernobyl als auch in Fukushima ziemlich gut ermittelt werden. Weil ab einer Strahlenbelastung von 500 Millisievert gesundheitliche Defekte schon innerhalb von Stunden, Tagen oder Wochen klar ersichtlich auftreten. In Tschernobyl starben zwei Personen unmittelbar aufgrund der Explosion des Reaktors. 600 zum Zeitpunkt der Katastrophe im Atomkraftwerk anwesende Mitarbeiter sollen einer Strahlung von 4.000 Millisievert ausgesetzt gewesen sein. Von diesen Personen starben 28 innerhalb weniger Tage oder Wochen. Weitere 19 Personen verloren in den Jahren zwischen 1987 und 2004 ihr Leben infolge der akuten Strahlenkrankheit, nachdem sie über lange Zeit wegen Verbrennungen, Hauttransplantationen oder Infektionen in Behandlung waren. Bei der rund um das Kraftwerk lebenden Bevölkerung wurden laut dem Bundesamt für Strahlenschutz keine akuten Strahlenschäden festgestellt.
Unklare voraussichtliche Todeszahlen
Während Japan und die restliche Welt wegen des effektiven Krisen-Managements beim Fukushima-Disaster noch vergleichsweise glimpflich davon gekommen waren, sah es in Tschernobyl ganz anders aus. Wobei vor allem die gesundheitlichen Folge-, Langzeit- oder Spätschäden der Strahlenbelastung kaum je realistisch ermittelt werden konnten. Das liegt daran, dass sich strahlenbedingte Krebsfälle kaum von auf natürlichem Wege entstandenen Tumoren unterscheiden lassen. Und sich daher ein direkter Zusammenhang zwischen Krebs und Strahlenbelastung allenfalls auf statistische Auffälligkeiten stützen kann. So konnte beispielsweise bei weißrussischen Kindern aus der Region Tschernobyl ein frappierender Anstieg von Schilddrüsenkrebs festgestellt werden, 30-mal häufiger als vor dem Unglück.
Neben der Statistik waren epidemiologische Studien die einzigen Hilfsmittel, mit denen Forscher versuchen konnten, den gesundheitlichen Spätfolgen der Tschernobyl-Strahlen-Katastrophe auf die Spur zu kommen. Für all jene Personen, die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren, wurden wegen der hohen Strahlendosis teilweise massive gesundheitliche Folgen vorhergesagt. Bei Menschen, die als Kinder und Jugendliche in den am stärksten radioaktiv betroffenen Gebieten ansässig waren und einer Belastung mit Jod-131 ausgesetzt waren, wurde ein deutlicher Anstieg von Schilddrüsenkrebserkrankungen prognostiziert. Das schlug sich bis 2005 in 6.848 Fällen nieder. Bis 2015 war die Zahl der registrierten Erkrankungen auf 19.200 gestiegen. Für andere Krebs- und Leukämieerkrankungen oder Herz-Kreislauf-Störungen liegen bislang noch keine belastbaren Daten vor. Es gibt lediglich Hinweise auf leicht erhöhte Raten für Leukämie und Augenlinsentrübungen bei manchen Liquidatoren sowie auf ein erhöhtes Brustkrebsrisiko für in der Ukraine und Russland lebende Frauen. Laut dem Bundesamt für Strahlenschutz hatte Tschernobyl keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der deutschen Bevölkerung.
Was die Zahl der Toten oder Opfer von Langzeitfolgen rund um die Tschernobyl-Katastrophe angeht, so kursieren bis heute die unterschiedlichsten Schätzungen. Die WHO sprach 2005 von 9.000 zu erwartenden Todesfällen. Greenpeace schätzte die Zahl der Toten infolge der Katastrophe zunächst auf 93.000, hat die Zahl allerdings später allein für Weißrussland, die Ukraine und Russland auf 200.000 nach oben korrigiert. Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs hatte über 50.000 bis 100.000 Tote und bis zu 900.000 Invalide spekuliert. Der sogenannte Torch-Report prognostizierte 2005 zwischen 30.000 und 50.000 Tschernobyl-Krebsfälle. Nicht zuletzt der russische Biologe und Umweltpolitiker Alexej Jablokow stellte 2011 sogar die Zahl von weltweit 1,44 Millionen Toten im Zusammenhang mit Tschernobyl in den Raum. Die tatsächliche Zahl bleibt jedoch offen.