Der Umgang mit Kernenergie spaltet Deutsche und Franzosen. Der Ukraine-Krieg bringt die deutschen Ausstiegspläne aus Atom und Kohle durcheinander. An eine ernsthafte Verlängerung der Atomenergie in Deutschland mag aber niemand glauben.
Für Deutschland ist klar: Bald ist Schluss mit Atomstrom-Produktion auf deutschem Boden. Emmanuel Macrons Nuklearstrategie dagegen ist eine völlig andere. Denn während Deutschland abschaltet, herunterfährt und abbaut, erlebt die Atomkraft in Frankreich eine echte Renaissance. Insgesamt 14 neue Atommeiler der neuen Generation sollen bis 2050 ans Netz. Kosten: zwischen 50 und 65 Milliarden Euro. Hinzu kommen rund eine Milliarde Euro für die Entwicklung und den Bau sogenannter Minireaktoren (SMR) aus dem mit acht Milliarden Euro versehenen Dekarbonisierungsprogramm der Wirtschaft bis 2030. Das verkündete Präsident Emmanuel Macron Anfang des Jahres in der Dampfturbinenfabrik in Belfort südlich des Elsass. Nur so könne Frankreich seine nationale Energie-Souveränität beibehalten und die Klimaneutralität bis 2050 erreichen. Vor allem die Energie-Unabhängigkeit hat seit Beginn des Russland-Kriegs eine neue Dimension erhalten.
Trotzdem hat diese neue Nuklearstrategie Macrons gespaltene Gefühle in Frankreich ausgelöst. Irritationen gab es darüber hinaus in Nachbarländern wie Deutschland und Luxemburg, die anstelle von Atomstrom auf den massiven Ausbau regenerativer Energieerzeugung setzen. Während EDF-Chef Jean-Bernard Lévy als Betreiber der 56 Reaktoren im Land schon von einem kleinen „Marshallplan" spricht, warfen die politischen Gegner Macron Wahlkampfmanöver vor. Zwar bekennen sich die Konservativen und die extreme Rechte uneingeschränkt zur Atomkraft, werfen aber dem Präsidenten vor, Fessenheim im Elsass im Juni 2020 voreilig geschlossen zu haben. Zumal derzeit sogar alte „Kohlemühlen" wie Emile Huchet in St. Avold wieder am Netz sind, um die derzeit abgeschalteten Atomreaktoren und die damit fehlenden Strommengen zumindest halbwegs zu kompensieren. Die Grünen und auch Teile der Linken sind sowieso für eine Reduzierung der in die Jahre gekommenen Atomkraftwerke und für einen verstärkten Ausbau der Erneuerbaren. Macron kann sich allerdings sicher sein, dass laut Umfragen weit über die Hälfte der Franzosen den Atomkurs der Regierung mitträgt. Das hat sich angesichts der Russland-Krise und der damit verbundenen steigenden Energiepreise noch weiter verstärkt.
Die energie- und machtpolitische Souveränität gewinnt in Krisenzeiten neben dem Umweltaspekt an Bedeutung. Die zivile und militärische Nutzung der Atomkraft garantieren Frankreich nach Ansicht Macrons Unabhängigkeit und Ansehen.
Energiesicherheit in Krisenzeiten
Dass sich der Präsident vom Saulus zum Paulus pro Atomkraft gewandelt hat, hat er schon in der Vergangenheit bewiesen. Die Entscheidung der EU-Kommission, Atomkraft in der EU-Taxonomie als nachhaltig einzustufen, spielt Frankreich regelrecht in die Karten, denn es verschafft dem durch Pannen und Schulden arg in Mitleidenschaft gezogenen Energiegiganten EDF mit rund 200.000 Beschäftigten eine Atempause und eröffnet darüber hinaus neue Exportchancen.
Schon zu Beginn seiner Amtszeit hat Macron das Vorhaben seines Vorgängers François Hollande gekappt, den Anteil des Atomstroms von 70 auf 50 Prozent bis 2025 zu reduzieren. Damit verbunden wären weitere Stilllegungen älterer Reaktoren gewesen. Daraus wurde bekanntlich nichts. Der Plan wurde einfach mal um zehn Jahre nach hinten verschoben auf 2035. Gleichzeitig erhielt die französische Atomsicherheitsaufsicht ASN die Anweisung zu prüfen, ob die Laufzeit der in Betrieb befindlichen Reaktoren um weitere zehn Jahre verlängert werden könnte, also von 40 auf maximal 50 Jahre. Das freut vor allem die französischen Kommunen mit Atomkraftwerken, denn längere Laufzeiten garantieren sichere Einnahmen über die Gewerbesteuer für die klammen öffentlichen Kassen.
Die meisten Kernkraftwerke Frankreichs stammen aus den 70er- bis 90er-Jahren und treiben dem staatlichen Betreiber EDF immer öfter Sorgenfalten auf die Stirn.
Zehn Meiler sind derzeit außer Betrieb, entweder aufgrund planmäßiger Revisionen oder vielmehr aus Sicherheitsgründen wie Korrosion und mangelhafte Schweißnähte an Rohrleitungen wie im Atomkraftwerk Chooz in den französischen Ardennen. Im Sommer kamen in den vergangenen Jahren oft außerplanmäßige Abschaltungen hinzu aufgrund extremer Trockenheit und der damit verbundenen niedrigen Wasserstände an den Flüssen zur Kühlung der Reaktoren.
Die französischen Haushalte verbrauchen im Sommer aufgrund der Klimaanlagen und im Winter wegen der vielen Elektroheizungen besonders viel Strom. Die Konsequenzen waren teure Stromzukäufe aus dem Ausland. Zudem hält Macron an der Fertigstellung des Europäischen Druckwasserreaktors EPR in Flamanville am Ärmelkanal fest, trotz inzwischen gigantisch gestiegener Gesamtkosten von 13 Milliarden Euro. Der Reaktor der vierten Generation sollte bereits 2012 nach fünf Jahren Bauzeit Strom produzieren, jetzt ist die wegen technischer Probleme immer wieder verschobene Inbetriebnahme Mitte 2023 vorgesehen. Ein Milliardengrab für einen Pannenreaktor, auch Frankreich hat seinen „Berliner Flughafen" spotten die Kritiker. Auch der von der EDF in Finnland gebaute und erst Ende letzten Jahres in Betrieb gegangene EPR hat Anlaufschwierigkeiten, ebenso die beiden EPR-Reaktoren in China. Fachleute sprechen bereits davon, Frankreich hätte beim Bau neuer Atomanlagen viel Know-how verloren, da in den letzten 20 Jahren keine neue Anlage in Frankreich neu dazu gekommen wäre.
Bau neuer Kernreaktoren in Frankreich
Und nun die Kehrtwende: Im ersten Schritt sollen sechs Druckwasserreaktoren zweiter Generation (EPR2) bis 2035 Strom liefern und die ältesten Reaktoren ersetzen. Im Doppelpack in Penly (Normandie), in Gravelines (Nordfrankreich) sowie im Rhônetal in Bugey oder Tricastin. Weitere acht Reaktoren sollen bis 2050 folgen. Während in Fessenheim bereits Pläne zur Errichtung eines Gewerbeparks auf dem ehemaligen Kraftwerksgelände in der Schublade liegen. Obwohl das Gelände zunächst dekontaminiert werden muss, sieht es in Cattenom anders aus. Dort hatte der Betreiber EDF 2018 gezielt weitere Grundstücke in Kraftwerksnähe hinzugekauft, was die Vermutung zulässt, dass dort neue Reaktoren gebaut werden könnten. Das wurde allerdings von EDF bisher so nicht bestätigt.
Gleichzeitig will Macron in Frankreich die erneuerbaren Energien weiter voranbringen, und zwar vorrangig die Windkraft. Bisher gibt es an der rund 3.000 Kilometer langen französischen Atlantikküste keine nennenswerten Offshore-Windparks, obwohl die Flächen dort nach Ansicht von Fachleuten optimal geeignet wären. Macron spricht von circa 50 Parks bis 2050, ungeachtet möglicher Proteste in der Normandie, Bretagne und am Atlantik. Aber vielleicht gibt es auch gar keine Proteste angesichts der drohenden Energiekrise mit Russland. Auch in Frankreich will deswegen niemand gern im kommenden Winter frieren.