Immer noch kommen Geflüchtete aus der Ukraine an. Manche sind tagelang unterwegs wie Familie Chernov – und dankbar, dass sie aufgenommen wurden.
Zu denen, die es geschafft haben, gehören auch Anna und Pavel. Sie kommen aus Nowa Kachowka, einer Stadt am linken Ufer des Dnepr in der südukrainischen Oblast Cherson.
Schon in der Nacht des 24. Februar wurde die Stadt angegriffen. „Um fünf Uhr morgens waren die ersten Explosionen zu hören. Die Kinder sind davon wach geworden und haben auch heute noch manchmal Alpträume davon", erinnert sich Anna. „Wenn man das noch nie erlebt hat, kann man das nicht beschreiben. Ich habe noch nie solche Angst gehabt. Mein erster Gedanke war: Was passiert mit meiner Familie?" Anna hält inne, schluckt. Dann erzählt sie, dass sie vor ein paar Jahren ein Kind verlor. Selbst damals habe sie nicht solches Entsetzen gespürt wie an diesem Morgen.
Dabei begannen die Sorgen und Befürchtungen schon viel früher. Pavel wurde zwei Tage vor Kriegsbeginn mitten in der Nacht wach, konnte nicht mehr einschlafen, lief ruhelos durch die Wohnung und schaltete dann den Fernseher ein. Dort wurde verkündet, dass Putin soeben die beiden selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ostukraine als unabhängig anerkannt hat. Was er bereits geahnt hat, schien nun einzutreten. Anna und Pavel arbeiteten weit weg von zu Hause im Westen der Ukraine, die Kinder waren bei den Großeltern. Am Morgen stieg Anna in einen Zug und fuhr zu ihnen.
Ihre Mutter hatte schon die Sachen gepackt. Sie wollte mit dem 18 Monate alten Baby nach Chernivtsi (Czernowitz) im Westen, die beiden anderen Kinder sollten mit dem Opa nach Kyiv. Dann begannen die Angriffe.
Anna war wie gelähmt. In der Nacht habe sie Albträume gehabt, sagt sie mit zitternder Stimme und zerknüllt ein Taschentuch. Sie hätte ihre Kinder zurücklassen müssen. Sie fühlte, dass es Krieg geben würde. „Ich bin religiös, ich habe auf ein Zeichen von Gott gewartet und darauf vertraut, dass er auf uns aufpasst." Sie rief ihren Mann an und den Vater von Pavel, der in der Nähe wohnte. Mit ihm, der Großmutter und den Kindern machte sie auf den Weg nach Cherson, die nächstgrößere Stadt.
Sie glaubten, im Westen der Ukraine seien sie sicher
Dort wollten sie Tickets kaufen, aber in der Stadt war schon die russische Armee, keiner wusste, ob man da wieder rauskommen würde. Am Busbahnhof drängten sich die Menschen in die schon übervollen Busse. Sie überlegten, mit dem Taxi nach Odessa zu fahren. Ihre Freunde dort rieten jedoch davon ab, überall gäbe es Checkpoints. Also dann nach Uman. Dort wollten sich alle mit Pavel treffen, der mit dem inzwischen reparierten Auto dazukommen sollte. Sie fanden einen Taxifahrer, aber Anna war etwas skeptisch, er schien getrunken zu haben. Sie stiegen trotzdem ein. Im Nachhinein glaubt Anna, er war von Gott geschickt. Er fuhr einfach auf der Gegenfahrbahn an den langen Autoschlangen vorbei, ungeachtet der Proteste.
Nach 16 Stunden kamen sie in Uman an. Annas Vater war in Irpin geblieben, nicht weit von Butscha. Sie telefonierten herum, bis sie einen Taxifahrer fanden, der ihn für einen horrenden Preis nach Uman fahren wollte. Endlich waren alle zusammen. Anna und Pavel hatten sich ein Haus in der Westukraine gemietet, weil sie glaubten, dort sicher zu sein. Aber Annas Schwester in London riet ihnen, das Land zu verlassen. Sie wollten zu Freunden der Schwester nach Rumänien, um ein Visum für Großbritannien zu beantragen. Dabei stellte sich heraus, dass Pavel seine Wehrdienstbefreiung vergessen hatte, er hätte die Ukraine nicht verlassen dürfen. Über die Mutter in Berlin und Kontakte in Kiew bekam er neue Papiere. Auch der Reisepass von Annas Vater war in der Eile vergessen worden. Aber es hat doch alles geklappt. Annas Eltern konnten zu ihrer Schwester nach London fliegen.
Pavel und sein Vater fuhren im Auto nach Berlin, Anna nahm mit den Kindern das Flugzeug. Endlich konnten sie zur Ruhe kommen. In Marzahn sind sie in einer von einem Kinderprojekt betriebenen Pension untergekommen. Dort wird ihnen auch mit der Beschaffung der notwendigen Papiere und bei der Wohnungssuche geholfen. Beide hoffen, auch schnell Arbeit zu finden. Sie sind zuversichtlich, denn sie seien hier so gut und großzügig aufgenommen worden, sagen sie. Anna fühlt sich bestärkt: Wo Gott sie hinführt, da öffnet sich eine Tür.