Widerstand zu leisten sind die Deutschen nicht gewohnt
Widerstand, kompromissloser Kampf – das sind wir in Deutschland nicht gewohnt. Die deutsche Gesellschaft ist eine Konsensdemokratie. Das bedeutet: Konflikte werden nicht ausgetragen, sondern beigelegt. Jeder gibt ein Stück weit nach, jeder gibt was ab, damit beide zufrieden sind und miteinander weitermachen können.
Kriege sind kein Ort für Kompromisse. Sie werden so lange geführt bis einer der beiden Kontrahenten nachgibt oder kapituliert. So war das bei allen Kriegen im 20. Jahrhundert. Demokratien kämpften gegen Diktaturen: gegen den Hitlerfaschismus, gegen Stalins totalitaristischen Staat, gegen Diktatoren wie Mussolini und Franco. Auch der Völkermord in Afrika war ein Krieg. Das Besondere: In der ganzen Zeit haben nie demokratische gegen demokratische Staaten gekämpft. Vielleicht, weil sie beide wussten, was ein Kompromiss ist.
Die Ukraine kämpft gegen einen brutalen, menschenverachtenden Aggressor, der die erklärte Absicht geäußert hat, den Staat von der Landkarte zu tilgen. Das Land wurde überfallen, rücksichtslos, von einer gewaltigen Übermacht an Soldaten und Waffen. Und es war nicht das erste Mal: 2014 besetzen die Russen die Krim; in den Jahren darauf unterstützten sie die Bildung von zwei Satellitenstaaten: Luhansk und Donezk.
Seitdem ist Krieg, Krieg mitten in Europa – eine Situation ohne historisches Vorbild: hier die westlichen Staaten, die auf Demokratie und Freiheit aufgebaut sind, dort ein autoritärer Staat mit einem Diktator an der Spitze, der imperialistischen Träumen nachhängt. Und andere Regionen und Staaten überfällt, unterdrückt und sich gefügig macht: Georgien, Moldawien, Tschetschenien, die Ukraine. Kann man mit einem Angreifer, der sich an keine Regeln hält, einen Kompromiss schließen? Selbst Boxer, die sich übel verprügeln, können sich einigen, wenn beide sich an die sportlichen Regeln halten.
Der Ukraine bleibt nur eine Wahl: Widerstand leisten. Widerstand, der mit allen Mitteln geführt wird, der Blut und Geld kostet. Der nicht aufhört, wenn Kinder Bomben zum Opfer fallen, Frauen vergewaltigt und unschuldige Zivilisten getötet werden. Das zu akzeptieren, das fällt gerade den Deutschen schwer.
Man hat Mitleid mit den Opfern, den Flüchtlingen schlägt viel Empathie entgegen, und die Hilfsbereitschaft ist groß. Aber man versteht es nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, sich irgendwie zu einigen und den Krieg zu beenden. Widerstand zu leisten ist man nicht gewohnt. Für die Feinde der Gesellschaft ist der Staat zuständig, er hat die Aufgabe, die AfD zu verbieten oder Rechtsextremisten zu verfolgen. Eine Berufsarmee soll die Gesellschaft nach außen schützen. Die Zivilgesellschaft lässt sich lieber auf einen Kompromiss ein als zu kämpfen. „Helden" sind nicht gefragt, ein Image wie es Selenskyj hat, ließe sich in Deutschland nicht aufbauen.
Deswegen herrscht hierzulande bei vielen Ratlosigkeit. Es fehlen die Worte, kaum ein Gespräch geht über die Beschimpfung Putins und seiner „Schergen" hinaus. Und die täglichen Bilder aus den zerbombten Städten erzeugen nicht mehr Entsetzen und Wut, sondern drohen zur Gewohnheit zu werden.
Selbst eine Untergrundführung durch die Schutzräume, die in Berlin übrigen geblieben sind, geht nicht auf den Ukraine-Krieg ein. Vorräte lagern, Überlebenstechniken trainieren, Fluchtwege planen – nur die Prepper bereiten sich vor. Die Mehrheit der Bundesbürger belächelt sie.
Einerseits ist das bemerkenswert, dass sich die Menschen auch nicht durch die atomaren Drohungen Putins ins Bockshorn jagen lassen. Andererseits scheint ein tiefer Riss zwischen dem Ernst der Lage und dem persönlichen Leben zu herrschen. Man lässt den Krieg vor der Haustür nicht an sich ran. Das Oktoberfest ausfallen lassen oder das Sommerfest im Ort – das macht ja auch keinen Sinn und rettet keinen Ukrainer.
Schließlich ist ja Frühling. Die Corona-Pandemie ist vorbei, man sitzt wieder ohne die lästige Maske zusammen, freut sich darauf, dass man unbehelligt Geschäfte aufsuchen, ins Stadion gehen, das Fitnessstudio besuchen kann. Da könnte es doch endlich auch mal vorbei sein mit diesem Krieg in der Ukraine.