Siracusa war einst eine mächtige Metropole des Mittelalters. Heute zieht die Stadt im Südosten Siziliens Touristen an. Nicht ohne Grund, denn dort liegt die Insel Ortygia, die seit 2005 Weltkulturerbe ist.
Wenn die Urlaubsunterkunft, ein umgebauter und renovierter Bauernhof inmitten von Zitronen- und Orangenhainen, gut neun Kilometer außerhalb der Stadt Siracusa liegt, und die ganze Gegend schon längst in spätabendliches Dunkel getaucht ist, dann wird es ohne Navigationshilfe im Mietwagen unmöglich, den richtigen Weg zu finden. Denn mit den Ausschilderungen an den zahlreichen Kreisverkehren Siziliens ist es so eine Sache: Sie fehlen oder führen in die Irre, und rasch liegen die Nerven blank. Doch die Beifahrerin kann in solchen Situationen überaus resolut werden, und als wir zufällig an einer schwach beleuchteten Polizeistation vorbeifahren, kommt ihr die rettende Idee. Sie klingelt so lange an dem schmiedeeisernen Tor, bis gleich zwei Carabinieri herauskommen, um zu helfen. Das zieht sich ein wenig hin, denn die Italienisch- und Englischkenntnisse sind auf beiden Seiten überaus lückenhaft, was aber die Hilfsbereitschaft der Polizisten nicht schmälert. Freundlich im Ton und amtlich in der Sache rufen sie unseren Gastgeber an und bitten ihn, uns abzuholen und zur Unterkunft zu leiten.
Sizilianer, so erleben wir es immer wieder, sind warmherzige und gastfreundliche Menschen und der Besitzer der „Villa dei Papiri" behandelt uns fast wie Mitglieder seiner großen Familie. Das ist keine Masche, sondern eine Haltung, die uns auch außerhalb der touristischen Zentren begegnet.
In Canicattini, einer etwas heruntergekommenen Kleinstadt mehr im Landesinneren, trifft man sich auf dem großen Platz vor der Kirche. Man sitzt dort vollkommen entspannt, schlürft einen Aperol Spritz oder einen Espresso und schaut einer wilden Kinderhorde beim Fußballspielen zu. Die Kinder wollen unbedingt fotografiert werden und klatschen dafür begeistert in die Hände. Ein Gemüsehändler hat seine Tomaten und Zucchini auf einer Sitzbank ausgebreitet, das Geschäft geht schleppend, aber er beschwert sich nicht. Wohlhabend sind die Leute nicht, aber ihre Zeit ist zu schade, sich zu grämen. Vielleicht sind die Menschen hier arm, aber man sollte nicht versuchen, dieses harte, einfache Leben zu romantisieren. Hingegen ist die deutsche Miesepetrigkeit, dieses anschwellende Genöle, nicht zu spüren.
Mag sein, dass die Sizilianer dafür zu stolz sind, denn sie sind sich ihrer wechselhaften Geschichte bewusst. Siracusa, das Syrakrus der Antike im Südosten der Insel gelegen, gehörte damals mit zeitweise einer halben Million Einwohner zu den mächtigsten und glanzvollsten Metropolen der Mittelmeerwelt. Die Stadt war eine der ersten griechischen Kolonien und über die Jahrhunderte kamen alle, plünderten und unterjochten: Römer, Byzantiner, Araber, Normannen. Später stritten sich Spanien und Österreich um die Stadt, 1861 wird Sizilien dann endlich Teil des damaligen Königreichs Italien.
Das Gebiet um Siracusa umfasst sanft abfallende Hügel, die sich bis zur Küste hin ausbreiten. Je weiter man nach Süden fährt, desto augenfälliger wird, dass hier die Landwirtschaft, Oliven- und Zitrusplantagen, der Anbau von Wein, Mandeln und Walnüssen die Gegend prägen. Die mit weißen Plastikfolien bedeckten, eng nebeneinanderstehenden Gewächshäuser für Tomaten und anderes Gemüse sind zwar keine Augenweide, aber das einträgliche Touristengeschäft beschränkt sich weitgehend auf den unmittelbaren Küstenstreifen. Bausünden, Spielhallen oder Fast-Food-Buden finden sich an den Stränden südlich von Siracusa nicht. Da sich in den 70er-Jahren wohlhabende Italiener ihre schmucken Ferienhäuser unweit des Strandes errichten ließen, war für Bettenburgen einfach kein Platz mehr vorhanden. Welch ein Glück! Zu empfehlen ist vor allem der kleine Ort Fontane Bianche, an dem ein breiter, langer Sandstrand zum Baden einlädt.
Herz der Stadt ist die Piazza Archimede
Die Keimzelle von Siracusa ist die Insel Ortygia, seit 2005 Weltkulturerbe und mit dem Festland durch einen Damm verbunden. Da der Ort seit jeher der Invasion verschiedenster Völker ausgesetzt war, verschmelzen auch hier Vergangenheit und Gegenwart, mischen sich christliche Kirchen in unterschiedlichen Baustilen mit Palästen und repräsentativen Plätzen, namentlich dem „Piazza Archimede", dem Herzstück der Stadt mit dem Artemis-Brunnen. Von hier aus winden sich die Gassen und Straßen zum Meer, die Häuserfassaden gezeichnet von Wind und Salz und immer wieder blickt man in stille, fast verwunschene Hinterhöfe. Zu den schönsten Plätzen gehört gewiss der Domplatz, der sich auf der höchsten Stelle von Ortygia erhebt und von barocken Palästen und Cafés umgeben ist. Mächtig ragt der Duomo Santa Maria delle Colonne auf, religiöser Mittelpunkt der Stadt. Ein Bummel entlang der Uferstraße hoch über dem Meer führt an der von Mythen umrankten Fonte di Aretusa vorbei, einem Süßwasserteich, der von einer Mauer und von Papyrusstauden umgeben ist – hier flanieren Einheimische und Touristen nach dem Motto „Sehen und gesehen werden." Unter ihnen viele, die eine Kreuzfahrt gebucht haben. Ihre überdimensionierten, schwimmenden Hotels, die schon von Weitem zu sehen sind, passen einfach nicht in das Stadtbild. Fürchten die einen den ausufernden Massentourismus, der zuvor schon Venedig viel von seinem Charme genommen hat, so hoffen andere auf ein einträgliches Geschäft.
Den besten Ausblick auf das Meer und den Sonnenuntergang hat auf jeden Fall, wer die Uferstraße bis zum Castello Maniace läuft. Der mächtige, fast einschüchternde Bau wurde 1038 angelegt und später als Königs -und Festungspalast neu errichtet.
Wer für einige Zeit in Siracusa bleiben kann, sollte die Umgebung entdecken. So ist am südlichen Stadtrand das Naturschutzgebiet „Fonte Ciane" einen Ausflug wert. Ein bequemer, knapp drei Kilometer langer Fußweg führt durch hohe Papyruspflanzen, Schilf, Felder und jahrhundertealte Bäumen soweit das Auge reicht. Die Quelle des kleinen Flusses Ciane befindet sich direkt am Eingang zum Reservat, sie bleibt allerdings verborgen, da der Fluss aus dem Untergrund kommt.
Kleiner Ort am Berg ist Weltkulturerbe
Noch mehr sizilianischen Barock als Siracusa bietet das unweit gelegene Noto, das nach einem verheerenden Erdbeben ab 1700 neu errichtet wurde. Statt mittelalterlicher, verwinkelter Gassen findet man weite Plätze und drei parallel verlaufende Achsen, die von rechtwinkeligen Straßen gekreuzt werden. Die meisten Fassaden leuchten honiggelb, und diese besondere Architektur ermöglicht immer wieder überraschende und weiträumige Perspektiven. Wer die Augen hoch zu den Balkonen und Balustraden der Paläste schweifen lässt, wird überall Putti entdecken, Engelsgesichter, Sirenen und furchterregende Monster. Im Herzen der Stadt ragt die breite Doppelturmfassade des Duomo Santi Nicola e Corrado empor, auf die man den besten Blick ergattert, wenn man vom Turmdach der ehemaligen Klosterkirche schräg gegenüber auf den Domvorplatz mit den Brunnenanlagen und der breiten Freitreppe schaut. Hier trifft sich auch die Jugend, und nicht selten sorgen Straßenmusiker für eine ausgelassene, fröhliche Atmosphäre.
Ein wenig weiter muss man fahren, wenn noch Ragusa Ibla besichtigt werden soll. Der Ort liegt an einem Berg, teilt sich in eine Unter- und eine Oberstadt, getrennt von einer Schlucht, über die drei große Brücken führen. Gut zu Fuß sollte man schon sein. Es ist sinnvoll, das Auto auf einem der großen Parkplätze abzustellen, der Reiz des Ortes, der schmalen und steilen Gassen erschließt sich nur zu Fuß. Es sind zumeist steile Treppenwege, die kreuz und quer durch die Stadt führen. Aber die Mühe lohnt. Auch diese Stadt gilt als architektonisches Musterbeispiel des sizilianischen Barocks, auch sie gehört zum Weltkulturerbe. Kleine Geschäfte und Cafés laden zum Verweilen und Ausruhen ein, aber man sollte diesen Ausflug besser für den Vormittag und den späten Nachmittag planen. Dann brennt die Sonne nicht so, das Licht ist freundlicher und die Läden sind zu diesen Tageszeiten ganz sicher auch geöffnet.
Das alles ist kaum in wenigen Tagen zu sehen und zu erleben. Man sollte sich Zeit nehmen. Und wer Langsamkeit und Entschleunigung wieder für sich entdecken will, der braucht keinen Coach oder eine Burn-out-Therapie. Eine lange Weile auf dem Kirchplatz von Canicattini, dort, wo die Kinder Fußball spielen, reicht für den Anfang.
Als wir einige Tage später den Weg zurück zum Flughafen antreten, wissen wir, dass wir wiederkommen. Und sollten wir uns erneut verfahren – ein freundlicher Sizilianer wird uns gewiss den Weg weisen.