Durch die Pannierstraße weht ein warmer tunesischer Wind: Khaled Ben Amor zeigt im „La Maison Bleue" unweit vom Landwehrkanal, was sein Heimatland mit Couscous und Gewürzen, Fisch und Fleisch in Amphoren und auf reich verzierten Tellern kulinarisch zu bieten hat.
Gut, dass sich Gastronomie-Journalisten und Food-Instagrammer gern über das Eine unterhalten, wenn sie sich treffen: gutes Essen. Wer war wo, kann welches Lokal empfehlen? „Kennst du das tunesische Restaurant ‚La Maison Bleue‘?", fragte mich Frau @Foodli_moodli bei einem Pressedinner. Nein, und das war ein Fehler in doppelter Hinsicht. Zum einen weiß die Insta-Kollegin, wovon sie spricht. Sie hat selbst tunesische Wurzeln. Wer, wenn nicht die eigenen Landsleute, sind die größten Kritiker, aber auch die enthusiastischsten Weiterempfehlenden? Zum anderen, weil das „La Maison Bleue" in der Pannierstraße in Nord-Neukölln praktisch bei mir ums Eck liegt.
An der Ecke Pflügerstraße war mir „La Maison Bleue" mehrfach im Vorbeifahren aufgefallen: Abends ist es immer hell erleuchtet, zahlreiche Tische und Stühle stehen zwischen Radweg und Eingang auf dem Bürgersteig. Es wirkt immer gut besucht, gerade in der wärmeren Jahreszeit sind die Tische draußen bis spätabends besetzt. Eine mutige Entscheidung von Inhaber Khaled Ben Amor, mitten im zweiten Pandemie-Winter am 1. März 2021 zu eröffnen, zunächst nur per Take-Away und Lieferung über Wolt. „Der Außer-Haus-Verkauf war wie ein Soft-Opening." Also die Phase, in der sich Abläufe nach einer Neueröffnung einschunkeln müssen und das Angebot nachjustiert wird.
Der Gastronom wusste, was er tat, ist er doch ebenfalls seit vier Jahren Betreiber des Neuköllner „Café Rix". Es war wohl unausweichlich, endlich ein tunesisches Restaurant auf die Stadtlandkarte zu setzen: „Im ‚Rix‘ haben mich die Gäste immer gefragt, wo sie tunesisch essen können." Das mag für eine Stadt wie Berlin seltsam klingen. Doch außer einem Imbiss am Hermannplatz und ein, zwei anderen Lokalen gibt es keine weiteren. Zudem stand das Lokal in der Pannierstraße länger leer; die vorige Betreiberin bot es Ben Amor zur Übernahme an.
Lieferungen aus Monastir
„Du musst unbedingt die Kolla probieren!", sprach die Kollegin. „Das ist ein typisch tunesisches Gericht." Aber sicher doch. Es handelt sich um ein Schmorgericht, das ausgesprochen dekorativ in einer heißen quergelegten Amphore auf den Tisch gebracht wird. „Eigentlich wird die Kolla sogar unter der Erde gemacht", erklärt Khaled Ben Amor. Offenes Feuer in Erdgruben dürfte aus gutem Grund in städtischen Wohnlagen nicht zulässig sein. Doch auch das, was in einem ganz normalen Ofen „nach Sahara-Art" zubereitet wird und uns nach dem Heben des seitlich aufgebrachten Deckels entgegenduftet, macht einen verführerischen Eindruck. Die weiche, sämige Fleisch-Gemüse-Gemengelage ist einfach köstlich.
Wir haben uns für die Version mit Rindfleisch entschieden, das mit Zwiebeln, Gemüse, Kartoffeln und getrockneten Pflaumen zwölf Stunden zusammen schmurgeln konnte. „Das ist der tunesische Schmorbraten mit Gewürzen, die wir hier mit Weihnachten verbinden", sagt die kulinarische Freundin an meiner Seite. Klar, vor allem der Zimt ist für uns ein Winter-Trigger. „Stell dir vor, es ist einer dieser schlimmen Novembertage. Du kommst rein, und es duftet nach all dem. Dann ist der Tag doch gerettet. Aber die Abende in der Wüste sind ja auch kalt."
All diese Erkenntnisse halten uns keinesfalls vom Verzehr an einem lauen Abend ab, an dem wir die türkisblauen und apricotfarbenen Wände und den ornamental gefliesten Boden allenfalls kurz auf dem Weg in die Bäder wahrnehmen. Die Kolla hat offenbar gleich eine mehrfache Wirkung: Wir sehen an der Nord-Neuköllner Ersatzrennstrecke Pannierstraße gleich mehrere halsbrecherische Verkehrssituationen und Beinah-Unfälle. Wir nutzen die Kolla ebenfalls als Saucenersatz zum Couscous, das uns etwas trocken vorkommt als wir vergebens nach etwas Flüssigem zum Vermischen suchen. „Wir essen das so trocken", sagt Khaled Ben Amor. Nicht falsch verstehen: Der Hartweizengrieß ist hervorragend „kleinkrümelig", wie es die Freundin nennt. Fein, aber nicht breiig und auch nicht staubtrocken. „Das ist schöner als das, was wir im Supermarkt bekommen."
An der Qualität des Couscous‘ wird besonders gut klar, weshalb Khaled Ben Amor Gewürze und Couscous, aber auch Geschirr und anderes für die Ausstattung des Lokals direkt aus Monastir nach Berlin bringen lässt. „Einmal im Monat kommt ein Transporter", sagt er. Seine Mutter ist die Außenstelle in der Heimatstadt. Sie notierte sämtliche Rezepte für die typisch tunesischen Gerichte, die im „Maison Bleue" auf die Tische kommen. Und sie überwacht, dass alles in der gewünschten Qualität nach Berlin kommt. Auf unserem gedämpften „Couscous Royal" lagern würzige Merguez-Würstchen, Rind- und Hähnchenfleisch, Kartoffeln, Zucchini, Karotten, grüne Pimentos, Kichererbsen und mit Zimt geröstete Zwiebeln. Da die tunesische wie die anderen nordafrikanischen Küchen in großen Teilen auf den gastfreundlichen Essgepflogenheiten der Berber fußen, sind die Gerichte von Hause aus zum Teilen gedacht. So nehmen wir uns vom Couscous-Hügel und aus der Amphore, was und wie es uns gefällt und mixen uns unsere individuellen kleinen Genuss-Platten.
Hauptgericht Nummer drei kennen wir eher aus Israel, aber auch das liegt schließlich am Mittelmeer: eine Shakshuka mit Meeresfrüchten. Klar, die pochierten Eier in der charakteristischen, pikanten Sauce aus Tomaten, Zwiebeln und Chilis dürfte wohl in den vergangenen Jahren so ziemlich jeder probiert haben, der in Berlin gern frühstücken geht. Miesmuscheln sind schmuck obenauf drapiert und verweisen optisch und geschmacklich deutlich auf die Küstenregionen Tunesiens. „Ich habe den einzigen Einwand, dass das Ei nicht so ganz in die Konfiguration mit dem Fisch passt", kritisiert der italienische Feinschmecker-Fotograf im Degustationsteam. „Das gibt es auch ohne. Dann ist es aber ein anderes Gericht", lacht Ben Amor.
Die Shakshuka ist zudem, so wie die meisten Gerichte, ebenfalls vegetarisch zu haben. Selbst wenn Fisch und Meeresgetier, Lamm, Huhn und Rind einen Stammplatz in tunesischen Gerichten haben, insbesondere wenn Gastfreundschaft in größerer Runde gezeigt und genossen werden soll, wird vieles auch ohne serviert. Die Kolla ebenso wie ein drei Mal gedämpfter Djerba-Reis oder ein vegetarischer Grillteller, den wir mehrfach im Laufe des Abends appetitlich angerichtet an die Nachbartische schweben sehen. Ich wiederum, die ich eigentlich kein Shakshuka-Fan bin, bin tatsächlich zum ersten Mal so richtig von der sämig-stückigen Tunke mit den eher festen Eiern angetan. Gut, dass noch etwas vom „gelben Brot", wie wir es bezeichnen, als Vorspeisen-Begleiter auf dem Tisch steht. Das mit Anis gewürzte und Schwarzkümmel beworfene, üppige, weiche Weißbrot eignet sich hervorragend zum Stippen und Aufwischen der Saucenreste vom weißbunten Keramikteller.
Die Preise sind gastfreundlich
Fraglos: Ich muss erneut herkommen; es gibt noch viel zu entdecken. Die Vorspeisenplatte für zwei, in unserem Fall drei Personen bot einen Ausblick darauf, was auf der kalten Seite auf die tunesische Art geht. „Normales" Kichererbsen-Hummus sowie eines mit Roter Bete und Joghurt vermengt, gegrilltes Gemüse, Labna, Harissa und marinierter Schafskäse mit Oliven möchten mit oder zum Brot gegessen werden. Ein mit Tomaten, Knoblauch und Peperoni angemachtes Auberginenmus ist erfreulich leicht gehalten und nicht geräuchert. Ungewohnt kommt Oumek Horiya, ein sehr fein geriebener Karottensalat, daher.
Alle drei Monate wechselt die Karte, berichtet Khaled Ben Amor. So bleibt die Küche saisonal. Er weist auch auf das Mittagsangebot hin: Montags bis freitags zwischen 12 und 15 Uhr kosten sämtliche Hauptgerichte zwei Euro weniger. Dabei sind die Preise auch abends sehr menschenfreundlich: Die Vorspeisenplatte kostet zehn Euro, eine vegane Kolla oder ein vegetarischer Grillteller kosten 11,50 Euro. Sind Fisch oder Fleisch im Spiel, variieren sie von 12,50 bis 17,50 Euro je Teller.
Das wissen gerade auch die zahlreichen jüngeren Gäste zu schätzen. Doch das „La Maison Bleue" sieht sich als Ort für alle, die gern gut und tunesisch essen: „Wir haben sehr gemischte Gäste von überall her. Zu uns kommen die Nachbarn ebenso wie Touristen. Wir haben viele französische Gäste und gleich danach viele Chinesen." Es ist die typische Berliner Mischung: Viele Kulturen und ihre Landsleute treffen an Spree und Landwehrkanal aufeinander. Wir lassen den Abend mit einer Mousse au Chocolat mit Mokkasauce sowie mit mürben und pralinig-schokoladeumhüllten tunesischen Baklava ausklingen. Unter einer Lichtergirlande und umrahmt von lebhaften Gesprächen um uns herum kann der Sommer jetzt gern so kommen und bleiben.