Die Finals kehren zurück in die Hauptstadt. Das nationale Multisport-Event gilt vor allem als TV-Ereignis, das kleineren Sportarten eine Bühne liefert. Doch das hat auch seine Schattenseiten.
Deutschland ist reif für Olympia – das findet zumindest Thomas Weikert. Der neue Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) wirbt öffentlich und auch intern heftig um eine offizielle Bewerbung. Das letzte Mal, dass Deutschland Gastgeber der Spiele der Jugend war, ist bereits 50 Jahre her: 1972 in München. Seitdem sind alle deutschen Versuche, das Mega-Event wieder ins Land zu holen, gescheitert. Manche knapp, andere krachend. Bei einigen kam es nicht einmal zur offiziellen Bewerbung, so wie beim letzten Versuch der Rhein-Ruhr-Initiative für 2032. Die hinterließ nur ein vergiftetes Klima zwischen DOSB und dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC).
Doch zumindest dieses Problem scheint sich mit dem Machtwechsel beim deutschen Dachverband aus der Welt aufgelöst zu haben. Aus seinen vielen Gesprächen während der Winterspiele in Peking mit anderen Top-Funktionären habe er herausgehört, dass „alle froh" wären, „wenn wir international ein Comeback feiern", verriet Weikert. Auch IOC-Boss Thomas Bach hatte kürzlich betont, er würde sich über einen neuen Vorschlag seines Heimatlandes „sehr freuen". Es sei inzwischen „realistisch, sich zu bewerben", so Weikert – aber: „Wir müssen unsere Hausaufgaben machen und das Internationale Olympische Komitee überzeugen, dass Deutschland ein guter Standort sein würde."
Erneute Diskussion über Olympia
In diesem Zusammenhang kommt den European Championships in München (11. bis 21. August) eine große Bedeutung zu. Dieses Event wird gern als „Mini-Olympia" bezeichnet, doch in Deutschland findet schon vorher ein ähnliches Format statt – wenn auch „nur" auf nationaler Ebene und deutlich kleiner: die Finals 2022. Das Multisport-Event erlebt nach 2019 und 2021 seine dritte Auflage und kehrt nach der Premiere wieder nach Berlin zurück. Im Vorjahr war die Rhein-Ruhr-Region als Veranstalter eingesprungen, nachdem die Veranstaltung 2020 coronabedingt ausgefallen war.
Diesmal also wieder Berlin, in der Hauptstadt wird erneut ein Hauch von Olympia wehen. Vom 23. bis zum 26. Juni wetteifert die hiesige Sportelite um nationale Titel. Vier Tage lang werden in 14 Sportarten die Deutschen Meister gesucht, diese enorme Dichte an Entscheidungen gibt es sonst nur bei Olympia. „Ein tolles Format, das ich klasse finde. Und ARD und ZDF setzten dabei die Sommersportarten toll in Szene", findet Hindernis-Läuferin Gesa Krause: „Die Finals sind eine großartige Plattform, weil sie allumfassend sind und einen Hauch von Olympia verbreiten."
Sie sind aber vor allem eines: sehr fernsehtauglich. Im Vorjahr hatten täglich über zwei Millionen Menschen vor den Bildschirmen gesessen und sich über Sportarten informiert, die sie sonst eher nicht verfolgen. Aufgrund des Interesses übernehmen die ARD unter Federführung des Rundfunk Berlin-Brandenburg und das ZDF die aufwendige Produktion. Es gibt eine großflächige Übertragung im linearen TV, etwa 30 Stunden werden die öffentlich-rechtlichen Sender live berichten. Aber auch im Hörfunk und via Livestream im Internet kommt der Sportfan auf seine Kosten.
„Wir haben 2019 gesehen, mit welchem Interesse der Öffentlichkeit wir rechnen können. Das wird natürlich auch das Ziel für dieses Jahr sein", sagte Andreas Statzkowski, Präsident des gastgebenden Berliner Leichtathletik-Verbandes. Um die großen organisatorischen Herausforderungen zu bewältigen, die so ein Multi-Sportevent mit Hunderten Athleten, Zehntausenden Zuschauern und etlichen Tonnen Technik mit sich bringt, sind unter anderem rund 300 Volunteers dabei. Auch diese freiwilligen Helfer in sofort erkennbarer Kleidung erzeugen ein gewisses Olympia-Flair.
Die Sportarten, die sich den Finals angeschlossen haben, sind: Leichtathletik, Kanu-Rennsport, Rudern, Schwimmen, Wasserspringen, Radsport-Trial, Bogensport, moderner Fünfkampf, Triathlon, Tischtennis, Geräteturnen, rhythmische Sportgymnastik, Trampolinturnen, Fechten und 3x3-Basketball. Eine riesige Vielfalt – und genau das macht den Reiz des Formats aus. Die größte Aufmerksamkeit liegt aber ohne Zweifel auf der Leichtathletik mit den Olympia-Medaillengewinnerinnen Malaika Mihambo und Kristin Pudenz. „Wir können mit Fug und Recht behaupten, dass die Leichtathletik das Zugpferd dieser Veranstaltung ist", sagte Idriss Gonschinska, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Und auch Andreas Statzkowski, Präsident des gastgebenden Berliner Leichtathletik-Verbandes, weiß, dass es ohne die Sportart keine „Finals" geben würde: „Die Leichtathletik ist die Königsdisziplin der Finals."
„Königsdisziplin der Finals"
Kein Wunder, dass sich ein Großteil der TV-Berichterstattung von ARD und ZDF um die Werfer, Läufer und Springer dreht. Die meisten Leichtathletik-Wettbewerbe werden im Berliner Olympiastadion ausgetragen, am Samstag und Sonntag sind jeweils eine Vormittags- und eine Nachmittagssession geplant. „Ein Highlight wird das nächste jagen. Die Zuschauer dürfen sich auf richtig, richtig gute Leichtathletik freuen", versprach Marco Buxmann. Der DLV-Veranstaltungsdirektor hofft, dass die diesjährige Ausgabe atmosphärisch an die der Premiere heranreichen kann: „Daran erinnern wir uns immer wieder gern zurück. Es war eine grandiose Stimmung im Olympiastadion, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir das wieder hinbekommen werden."
Da die Corona-Auflagen weitestgehend aufgehoben sind, könnte das Olympiastadion rein theoretisch komplett gefüllt werden. Das jährliche Istaf in der Betonschüssel beweist, dass das Publikum aus Berlin und dem Umfeld sehr leichtathletikaffin ist. Bei vielen Fans und Athleten kommen auch sofort Erinnerungen an die grandiose Heim-Europameisterschaft 2018 oder die Heim-Weltmeisterschaft 2009 auf, als Sprint-König Usain Bolt einen 100-Meter-Weltrekord (9,58 Sekunden) vielleicht für die Ewigkeit auf die berühmte blaue Tartanbahn gezaubert hat. „Deutschlands Leichtathletinnen und Leichtathleten kehren somit zurück in ihr Wohnzimmer", stand auf der DLV-Verbandsseite „leichtathletik.de" über die Wettkämpfe während der Finals 2022 im Olympiastadion geschrieben.
Trotzdem geht der Verband zusammen mit den Veranstaltern auch den „urbanen" Weg, er will also die klassischen Disziplinen zu den Leuten bringen – ganz nach dem Motto: Rein in die Stadt! Die Kugelstoß-Wettbewerbe zum Beispiel finden direkt vor dem Brandenburger Tor statt, auf dem Pariser Platz wird dafür extra eine temporäre Anlage aufgebaut. „Auch das ist ein großes Highlight", sagte Buxmann.
Viele Wettbewerbe in diesem Sommer
Sportlich werden die Leichtathletik-Wettbewerbe bei den Finals dadurch aufgewertet, dass ihr Ausgang eine größere Bedeutung haben könnte als „nur" die des Titels. Sollten drei oder mehr Sportler in ihren Disziplinen die Normen für die Weltmeisterschaften in Eugene/USA (15. bis 24. Juli) und die Heim-Europameisterschaften in München (15. bis 21. August) erfüllen, werden vorrangig die bei der DM Erst- und Zweitplatzierten nominiert. Bei den beiden Saisonhöhepunkten will natürlich jeder dabei sein, entsprechend groß ist die Motivation. Zumal die DM für manche die letzte Bewährungsprobe vor den internationalen Titelkämpfen ist. DLV-Vorstandschef Gonschinska bezeichnete die Anhäufung wichtiger Wettbewerbe in diesem Sommer als eine „außergewöhnliche Situation". Doch die ist den Athleten deutlich lieber als die Corona-Zeit, als Wettkämpfe komplett ausgefallen oder ohne Publikum abgehalten worden waren. Deswegen nehmen die Schwimmer auch Reisestrapazen auf sich. Einige Kaderathleten des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV) reisen direkt nach ihrem Wettbewerb bei der parallel stattfindenden WM in Budapest nach Berlin, um in der Schwimm- und Sprunghalle im Europasportpark (SSE) an der Landsberger Allee um nationale Titel zu kämpfen. Olympiasieger Florian Wellbrock verzichtet jedoch auf diese Art des Doppelstarts, weil er in Budapest sowohl im Becken als auch im Freiwasser mit Goldambitionen startet. Die Schwimmer raus aus ihrer Halle zu bekommen, wäre zu kostenintensiv. Trotzdem dürfen sich die Fans auf weitere Outdoor-Wettkämpfe im Herzen der Hauptstadt freuen. So finden die Ruder- und Kanu-Wettbewerbe wie schon 2019 vor der East Side Gallery auf der Spree statt.
Streetball wird vor dem Neptunbrunnen im Stadtteil Mitte gespielt, und im Strandbad Wannsee springen die Triathleten ins Wasser. Für Events in der Stadt verlangen die Veranstalter kein Geld von den Zuschauern, die Karten für die Leichtathletik, Schwimmen, Turnen, rhythmische Sportgymnastik und Fechten können auf der Veranstalterseite erworben werden.
Kleinere Sportarten, die früher ihre nationalen Titelkämpfe oft in der Provinz und nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen haben, bekommen plötzlich eine große Bühne. „Natürlich ist es schön, ein wenig mehr TV-Präsenz zu bekommen. Das ist für unsere Sportart extrem wichtig", sagte der zweifache Kanu-Olympiasieger Max Rendschmidt. Doch die TV-Präsenz hat ihren Preis. ARD und ZDF können nicht auf alle Wünsche eingehen, Termin-Kollisionen sind angesichts des straffen Zeitplans programmiert. Hinter vorgehaltener Hand wird gar kritisiert, die Verbände hätten bei der Termingestaltung so gut wie gar kein Mitspracherecht. Die ARD steigt am 23. Juni mit der Berichterstattung ein, einen Tag später folgt das ZDF mit seiner linearen Ausstrahlung. Als Moderatoren sind Jessy Wellmer und Sven Voss eingeplant.