Genau vor 100 Jahren wurde der Außenminister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, ermordet. Die Spur der Täter führte nach rechts. Bis heute kommen aus rechtsextremistischen Kreisen die meisten Attentäter. Eine Geschichte der politische Morde in Deutschland.
Der 24. Juni 1922 war ein kühler, bewölkter Tag. Walther Rathenau, Außenminister der Weimarer Republik, hatte sich trotzdem entschieden, den offenen Wagen zu nehmen. Von seinem Haus im Grunewald nahm er wie immer die Königsallee. Er kam nicht weit. An der Ecke Wallotstraße, wo die Allee eine S-Kurve macht, holten die Verschwörer Rathenaus Wagen ein. Nach kurzer Verfolgung überholten sie ihn. Einer der Attentäter schoss mit einer Maschinenpistole, der andere warf eine Handgranate. Ein politischer Mord, gezielt, gut vorbereitet, kaltblütig ausgeführt. Wie so viele in dieser frühen Zeit der Weimarer Republik.
Die Justiz war auf dem rechten Auge blind
Die Mörder, der 23-jährige Student Erwin Kern und der 26-jährige Maschinenbauingenieur Hermann Fischer, gehörten zu der rechtsextremen, antisemitischen Organisation Consul (OC). In der Zeit der sogenannten Fememorde nach dem Ersten Weltkrieg war die Organisation an mehreren Attentaten und politischen Morden beteiligt: Ermordet wurden Karl Gareis, Fraktionsvorsitzender der USPD im Bayerischen Landtag, und Matthias Erzberger, Zentrumspolitiker, Reichstagsabgeordneter und Finanzminister im Kabinett Gustav Bauer (1921). Maximilian Harden, Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zukunft", entging knapp einem Mordanschlag, ähnlich Philipp Scheidemann in seiner Zeit als Oberbürgermeister in Kassel (1922).
Von 1919 bis 1922 wurden 354 politische Morde von rechts verübt, für die die Gerichte eine lebenslängliche Haftstrafe, Zeitstrafen von insgesamt 90 Jahren sowie einige geringfügige Geldstrafen verhängten. Viele Täter wurden freigesprochen, selbst wenn sie geständig waren. Die Justiz bestand aus Beamten, die noch im Kaiserreich gedient hatten – sie war auf dem rechten Auge blind. Mit den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht fing es an, das Attentat auf Walther Rathenau war der Höhepunkt. Als Außenminister hatte er sich für die Versöhnung mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs eingesetzt und mit Lenins Russland den Rapallo-Vertrag ausgehandelt. Die preußische Polizei stellte den einen der Mörder am 14. Juli. Der andere brachte sich selbst um.
In nur sechs Wochen 493 politische Taten
In den folgenden Jahren flachte die Hetze ab, die politischen Morde wurden seltener. Erst der „Blutmai" 1929 brachte das Schießen und Töten wieder zurück in die Politik. Ende April 1929 weigerte sich der sozialdemokratische Berliner Polizeipräsident Karl Friedrich Zörgiebel, ein Demonstrationsverbot aufzuheben, das im Dezember 1928 zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit erlassen worden war. Auf das Verbot ihrer traditionellen Kundgebungen zum „Tag der Arbeit" am 1. Mai, der in der Weimarer Republik nie gesetzlicher Feiertag war, reagierte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) mit einem Aufruf zu einer friedlichen Massendemonstration. Dem Aufruf folgend, versuchten am 1. Mai 1929 Tausende Demonstranten von den Berliner Außenbezirken in das Stadtzentrum zu ziehen. 13.000 Polizisten gingen gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Drei Tage hielten die Straßenkämpfe an. 30 Menschen, auch Unbeteiligte, wurden durch Polizeischüsse getötet, mehr als 200 verletzt. Die SPD-geführte preußische Regierung verbot den Rotfrontkämpferbund (RFB). Für die KPD waren die Sozialdemokraten seitdem „Sozialfaschisten".
Das Preußische Ministerium des Innern veröffentlichte Ende November 1932 eine Übersicht zu dem „schleichenden Bürgerkrieg". Für die Zeit vom 21. Juli bis zum 31. August 1932, in sechs Wochen also, zählte man insgesamt 493 politisch motivierte Taten, darunter 33 „im politischen Kampf" Getötete.
Die unzähligen Morde aufzulisten, die von den Nazis an ihren Gegnern verübt wurden, als sie an der Macht waren, würde hier zu weit führen. Das NS-Regime ging von Anfang an mit aller Härte gegen Abweichler und politische Gegner vor. So ließ Hitler am 30. Juni 1934 die vollständige SA-Führung durch SS-Einheiten liquidieren. Die SA unter der Führung des ehemaligen Offiziers Ernst Röhm war ihm zu mächtig geworden. Die SS beglich nebenbei gleich noch ein paar alte Rechnungen.
In der Bundesrepublik wurden politische Morde nicht eigens erfasst. Eindeutig aus einem rechten Milieu kam ein Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern am 13. Februar 1970. Dabei wurden sieben jüdische Hausbewohner getötet. Alle hatten die Zeit des Nationalsozialismus überlebt, zwei davon die NS-Vernichtungslager. Der Brandanschlag ist bis heute nicht aufgeklärt, wird aber einhellig als antisemitischer Massenmord eingestuft.
Der eigentliche Wendepunkt war die Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, Student und Teilnehmer an der Demonstration gegen den Staatsbesuch von Schah Mohammad Reza Pahlavi. Der Täter, der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras, kam zwar vor Gericht, aber das Verfahren wurde von Anfang an manipuliert, Kurras freigesprochen. Dieser Skandal und die Tat selbst hatten einen erheblichen Einfluss auf die Radikalisierung der Studentenbewegung. Wie sich erst viel später herausstellte, war Kurras geheimer Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit.
Walter Lübcke wird in seinem Haus erschossen
Dann folgte eine lange Serie linksextremistischer Anschläge und Morde. Im Mai 1970 wird Andreas Baader durch linke Gesinnungsgenossen, darunter Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, gewaltsam aus dem Gefängnis befreit. Das ist die Geburtsstunde des Linksterrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). 1977 erreichten die Aktivitäten der RAF ihren Höhepunkt. Am 7. April 1977 wird neben anderen der damalige Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen, am 30. Juli 1977 der Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto ermordet. Am 5. September 1977 wird Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF verschleppt und anderthalb Monate später, am 19. Oktober 1977, erschossen aufgefunden. Insgesamt ist die RAF für 34 Morde, mehrere Entführungen und zahlreiche Banküberfälle und Sprengstoffattentate mit einer Vielzahl von Verletzten verantwortlich. Am 20. April 1998 erklärte die RAF ihre Auflösung.
Anders der Rechtsextremismus: Die Amadeu Antonio Stiftung (AAS) zählt aktuell (2022) mindestens 218 Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland und 17 Verdachtsfälle. Am 26. September 1980 wird auf dem Münchner Oktoberfest durch einen rechtsextremen Attentäter der bislang schwerste terroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verübt. 13 Menschen sterben durch eine selbstgebaute Bombe, mehr als 200 Menschen werden verletzt. Im September 2000 beginnt die Mordserie des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Innerhalb von sechs Jahren werden neun Menschen mit Migrationshintergrund aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven ermordet.
Das Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe konnte sich dabei auf ein unterstützendes Umfeld von bis zu 200 Personen verlassen. Das letzte Opfer des NSU ist eine deutsche Polizeibeamtin. 2011 werden Mundlos und Böhnhardt in Eisenach von der Polizei gestellt. Nach einem Schusswechsel setzen sie ihr Wohnmobil in Brand und erschießen sich.
Rechtsextreme Taten überwiegen
Am 1. Juni 2019 wird der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke vor seinem Wohnhaus durch einen Kopfschuss getötet. Zwei Wochen später wird der Rechtsextremist Stephan Ernst festgenommen. Zur Hass-Figur wurde der CDU-Politiker Lübcke während der Flüchtlingskrise 2015, als er in einer Versammlung demokratische Werte verteidigte und sagte: „Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist."
Im Oktober 2019 verübt der Rechtsextremist Stephan B. in Halle an der Saale einen antisemitischen Anschlag auf die Synagoge. In Hanau erschießt am 1. Februar 2000 ein Täter zehn Menschen mit Migrationshintergrund. Der Täter, Thomas R., tötet auch seine Mutter und begeht Selbstmord.
Was zeigt diese Aufstellung politischer Morde? Erstens: Es gab sie immer, und die Tendenz, sie als ein Phänomen der Weimarer Republik zu behandeln, ist falsch. Zweitens: In den 1920er- und 1930er-Jahren wurden die Taten offen verübt, die Täter brüsteten sich vor ihren rechtsradikalen Kameraden damit und brauchten vor der Justiz nicht allzu viel Angst zu haben. Heute hat die Funktion, sich dazu öffentlich zu bekennen, das Internet übernommen. Allerdings können die Täter nicht mehr auf eine Justiz vertrauen, die auf dem rechten Auge blind ist. Drittens: Wer linke und rechte Morde gleichsetzt, verharmlost die Überzahl der rechtsextremistischen Täter. Sie radikalisierten sich aus der Mitte der Gesellschaft. Das ist die eigentliche Gefahr.