Vor 25 Jahren hob Jan Ullrich die Radsport-Welt aus den Angeln. Das Jahrhunderttalent schrieb deutsche Sportgeschichte – doch auf dem Tour-Sieg 1997 liegt bis heute ein dunkler Doping-Schatten.
Jan Ullrich zeigt sich nur noch ganz selten vor der Kamera, aber wegen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine machte er nun eine Ausnahme. Für die Hilfsorganisation „Ein Herz für Kinder" bat Ullrich in einem 42-sekündigen Video um fleißige Gebote für „eines meiner historischen Räder aus meiner aktiven Zeit". In der Tat handelte es sich dabei nicht um irgendein x-beliebiges Gefährt – mit dem gelben Rennrad war Ullrich 1998 bei der Tour de France als Titelverteidiger an den Start gegangen. „Bitte helft durch euer Gebot, das Leid und die Not in der Ukraine zumindest ein wenig zu lindern", sagte der 48-Jährige: „Der schreckliche Krieg in der Ukraine und das unfassbare Leid der Menschen, der Familien dort vor Ort, erschreckt die ganze Welt. Alle sind geschockt, und auch mein Herz blutet."
Den Zuschlag erhielt am Ende ein Bieter aus Frankfurt, der nun für 40.100 Euro ein Stück Radsport-Geschichte sein Eigen nennen darf. Ein hübsches Sümmchen, klar ist aber auch: Das Rennrad aus dem Jahr 1997 hätte bei der Versteigerung einen noch viel höheren Erlös erbracht. Auf diesem Gerät hatte der gebürtige Rostocker mit dem Tour-Sieg deutsche Sporthistorie geschrieben. Sein phänomenaler Aufstieg vom getreuen Adjutanten zum unerwarteten Dominator zog seine Heimat in seinen Bann. Auch heute noch, 25 Jahre nach dem ersten und bislang letzten Gesamtsieg eines deutschen Rennfahrers auf der Großen Schleife, sind die Bilder und Emotionen präsent.
Millionen Menschen interessierten sich plötzlich für den Radsport und die Person Jan Ullrich. Ähnlich wie Boris Becker im Tennis und Michael Schumacher in der Formel 1 zog die Lokomotive „Ulle" seine Sportart nahezu im Alleingang in eine ganz neue Dimension. Die Menschen verehrten den Athleten Ullrich, der über so unfassbar viel Talent verfügte. Sie mochten den Menschen Jan, der zwar etwas verschlossen war, aber ein gutes Herz hatte. Sie identifizierten sich mit seinen Schwächen, der mit seinem Hüftspeck zu kämpfen hatte.
Für die Medien war der damals 23-Jährige eine Sensation. Jung, unverbraucht, hochtalentiert – alle stürzten sich auf ihn und seine Geschichte. Sein Familien- und Privatleben wurde durchleuchtet, seine Schwächen für Süßes und den Rotwein schnell aufgedeckt. Nur in die dunklen Ecken der Branche schaute kaum jemand hinein. Der junge Mann mit den roten Haaren und den Sommersprossen im Gesicht wurde auf ein Podest gehoben, er wurde dem Volk als strahlender Held präsentiert – der fatale Absturz Jahre später schmerzte umso mehr.
Im Zuge des Doping-Skandals um den spanischen Arzt Eufemiano Fuentes wurde Ullrich des Dopings überführt. Ja, er habe bei Fuentes Eigenblut-Behandlungen vorgenommen, gab Ullrich vor Jahren in einem Fokus-Interview zu – versehen mit einem dicken aber: „Fast jeder hat damals leistungssteigernde Substanzen genommen. Ich habe nichts genommen, was die anderen nicht auch genommen haben. Betrug fängt für mich dann an, wenn ich mir einen Vorteil verschaffe. Dem war nicht so. Ich wollte für Chancengleichheit sorgen." Doch der Internationale Sportgerichtshof (CAS) sah das anders: Ullrich wurde 2012 für zwei Jahre gesperrt, all seine Ergebnisse seit dem 1. Mai 2005 annulliert. Darunter auch Platz drei bei der Tour de France 2005 und der Gesamtsieg bei der Tour de Suisse 2006.
Sein großer Erfolg bleibt bestehen
Und der Triumph bei der Tour de France 1997? Der steht nach wie vor in den Annalen – während seinem langjährigen Erzrivalen Lance Armstrong alle sieben Gesamtsiege entzogen wurden, weil dem US-Amerikaner systematisches Doping nachgewiesen wurde. Dass Ullrich in der dopingverseuchten Ära die Tour nur mit legalen Mitteln mit einem monströsen Vorsprung von über neun Minuten gewonnen hat, ist schon mit Blick auf seine „Verfolger" zweifelhaft. So sagte Richard Virenque einmal über sich selbst: „Ich stehe für Doping." Und Marco Pantani starb viel zu jung an Herzversagen durch die Einnahme mehrerer Substanzen.
Doch an jenem sonnigen 15. Juli 1997, als der damals 23-jährige Deutsche die Radsportwelt aus den Angeln hob, war all das kein Thema. Das Peloton rollte auf der zehnten Etappe in den Pyrenäen auf Andorra Arcalis zu, wo eine Bergankunft wartete. Ullrich war offiziell noch immer Edelhelfer für Bjarne Riis, auch wenn der Kapitän vom Team Telekom schwächelte. Der Däne lag im Gesamtklassement anderthalb Minuten hinter Ullrich zurück, trotzdem musste dieser weiterhin Löcher stopfen, das Tempo kontrollieren, Angriffe von Virenque und Pantani kontern. Sieben Stunden lang. Doch zehn Kilometer vor dem Ziel kam es zum Machtwechsel. Er blickte immer wieder zurück auf Riis, der am Ende der Favoritengruppe schwer atmend nur mit viel Mühe den Anschluss halten konnte. Aus seinem fahrenden Begleitwagen gab ihm der damalige Telekom-Sportchef Walter Godefroot grünes Licht für die Attacke, seine Worte an Ullrich sind ebenfalls ein Stück Tour-Geschichte: „Der König ist tot. Schauen Sie sich nicht um und geben Sie alles."
Und das tat Ullrich. Der unwiderstehliche Angriff erfolgte in einer Linkskurve, als er kräftig in die Pedale trat und sofort ein paar Meter zwischen sich und die Verfolger brachte. Was folgte, war eine Machtdemonstration. Den Oberkörper ergonomisch perfekt über den Lenker gebeugt, zermürbte Ullrich mit seinem gleichmäßigen Monstertritt, bei dem er trotz extremer Steigung fast nie aus dem Sattel stieg, die leichtere Konkurrenz. Die Kletterkünstler versuchten mit ihrem Wiegetritt Schritt zu halten – keine Chance. Ihre Bemühungen wirkten verzweifelt, während Ullrichs Fahrstil einer puren Kontrolle glich. „Die Leute sagen, ich wäre den Berg ganz leicht hochgefahren", sagte Ullrich danach einmal: „Das stimmt." Im Ziel hatte der deutsche Meister 68 Sekunden Vorsprung auf die entzauberten Virenque und Pantani, seinen einstigen Chef Riis deklassierte er gar um dreieinhalb Minuten. Als Lohn durfte sich Ullrich erstmals in seiner Karriere das Gelbe Trikot über seinen geschundenen Körper streifen. Ein Radsport-Held war geboren. „Der neue Riese", titelte die Sportzeitung „L‘Equipe". Für „Le Parisien" war Ullrich „Der König", für „Le Figaro" gar „Der Kaiser". Es war seine erste Sternstunde – eine zweite folgte nur drei Tage später. Beim Einzelzeitfahren nach St. Étienne zerstörte Ullrich auf unnachahmliche Art alle Hoffnungen der Konkurrenten, in den Alpen vielleicht noch mal angreifen zu können. Er fuhr regelrecht außerirdisch. Obwohl die Veranstalter die Startabstände auf drei Minuten erhöht hatten, holte er wenige Kilometer vor dem Ziel den zweitplatzierten Virenque ein. Mit einer Leichtigkeit, die an die ganz Großen des Sports erinnert. An Eddy Merckx zum Beispiel, den „Kannibalen" aus Belgien. „Ullrich frisst sich regelrecht an seine Gegner heran", sagte damals Rudi Altig.
Dopingschatten wurde größer
Mit dieser erneuten Machtdemonstration vergrößerte Ullrich seinen Vorsprung auf 5:42 Minuten, nur noch wenige glaubten zu diesem Zeitpunkt ernsthaft an einen Einbruch des Shootingstars. Doch ein Spaziergang wurden die Alpen-Passagen keineswegs, der neue Telekom-Kapitän musste hart kämpfen. Dabei konnte er sich auf sein Team verlassen: Zuerst führte ihn ausgerechnet der entthronte Riis bei der Abfahrt vom Col du Glandon an die enteilte Festina-Gruppe um Virenque zurück. Und in den Vogesen musste Ullrich, geschwächt durch eine Erkältung, kurz abreißen lassen. Udo Bölts blieb als getreuer Helfer stets an seiner Seite, er spendete ihm Windschatten – und er packte ihn bei der Ehre: „Quäl dich, du Sau!" Ullrich, mit einem gottgegebenen Talent gesegnet, aber bei Weitem kein Mentalitäts-Monster, brauchte solche Ansprachen von Zeit zu Zeit. „Das hat mir geholfen", erinnerte er sich.
Die Schlussetappe nach Paris war dagegen Schaufahren pur. Ullrich genoss die Spazierfahrt im Maillot Jaune, auf der Champs-Élysées stieß er mit einem Champagner-Glas mit seinen geschlagenen Rivalen an. Er sei der „Sonnenkönig", schrieb hinterher die „Bild", dem „ganz Paris zu Füßen" liegen würde. „In der langen Geschichte der Tour der erste und bisher einzige deutsche Sieger zu sein", sagte Ullrich einmal, „erfüllt mich mit Stolz." Doch wirklich glücklich hat ihn dieser Triumph nie gemacht. Plötzlich stand der scheue Bub im Rampenlicht, die Erwartungshaltung war riesig. Er, den es nie wirklich in den Leistungssport gedrängt hatte, sollte plötzlich 365 Tage im Jahr asketisch und hochprofessionell leben. Er sollte den wie Phönix aus der Asche emporgestiegenen Armstrong besiegen, Platz zwei war nach seiner Triumphfahrt 1997 nicht mehr gut genug.
Das Ende ist bekannt: Ullrich zerbrach an diesen Erwartungen. Fast schon trotzig verschwendete er sein Jahrhunderttalent – und die Sportfans sahen mit einer Mischung aus Mitleid, Ärger und Verständnis zu. Die Eskapaden und Fehltritte wurden immer heftiger, der Dopingschatten immer größer. Richtig schlimm wurde es aber erst nach dem Karriereende 2007. Ullrich stürzte komplett ab. Trink-Exzesse, Burn-out, Scheidung, Finanzprobleme, Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss, Gerichtstermine wegen einer handfesten Auseinandersetzung mit einer Escort-Dame, ein aufsehenerregender Nachbarschaftsstreit mit Schauspieler Til Schweiger. Dazu verstörende Videobotschaften an Freunde, auf denen klar zu erkennen ist, dass er nicht Herr seiner Sinne ist.
Nach einigen Therapie-Versuchen ist Ullrich eigenen Angaben zufolge inzwischen „clean". In dem Auktions-Video sagte er, er wünsche sich „von ganzem Herzen, dass bald wieder Frieden und Glück in der Ukraine einkehren." Ihm ist dasselbe zu wünschen.