Die Ukraine und Moldawien sind EU-Beitrittskandidaten. Ein Beschluss mit hoher politischer Symbolkraft, während der Krieg weiter tobt. Ansonsten bestimmen Energie, Inflation und drohende Hungersnot in Teilen der Welt die Agenda.
Die belgische Hauptstadt ist einiges gewohnt. Dass schwere Motorräder mit Blaulicht Kreuzungen und Kreisel kurzfristig sperren, damit eine kleine Kolonne großer, verdunkelter Limousinen ungestört durcheilen kann, gehört zum Alltag. E-Scooter versuchen, noch schnell durchzuflitzen, Passanten zeigen sich vergleichsweise unbeeindruckt.
Alltag in Europas Hauptstadt. An diesem Donnerstag ist allerdings trotz aller Routine zu spüren, dass es kein normaler Tag ist. Nicht nur, weil ständiges Rattern von Hubschraubern über dem Zentrum mit den europäischen Institutionen liegt.
Der 23. Juni wird ziemlich übereinstimmend von Beobachtern als „historisch" eingeordnet. Das ist in diesem Fall keine schlagzeilenbedingte Übertreibung. Zum ersten Mal in der Geschichte wird einem Land, in dem ein schwerer Krieg tobt, der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. „Wir schulden das dem ukrainischen Volk", wird Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron anschließend erklären. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zuvor bei der Empfehlung der Kommission für diesen Schritt betont: „Wir wollen, dass sie mit uns den europäischen Traum leben". Wobei sich das „sie" neben der Ukraine auch auf Moldawien bezog, den Nachbarn der Ukraine, der sich ebenfalls in der Gefahr sieht, von russischen Raketen angegriffen zu werden.
EU zeigt einstimmig klare Haltung
Natürlich ist allen klar, dass ein Beitritt nach den hohen Aufnahmehürden der EU nicht in absehbarer Zeit erfolgen kann und wird. Entscheidend ist das politische Signal, das die massive Militärhilfe begleitet.
Was den meisten Kommentatoren nur eine Nebenbemerkung wert ist: Einmal mehr hat die EU einstimmig klare Haltung gezeigt. Und das in einer Frage, die vor einem halben Jahr vermutlich auf eine ziemliche einhellige Ablehnung gestoßen wäre. Eine Erweiterung hatte damals niemand wirklich im Sinn. Dafür hat die EU im Inneren selbst zu viele offene Fragen auf der Agenda.
Das wurde denn auch deutlich beim vorgeschalteten Westbalkan-Gipfel. Für die Beteiligten eine Enttäuschung. Keine wirklichen Fortschritte. Albanien, Serbien, Montenegro, Bosien-Herzegowina und Nordmazedonien klopfen schon länger an die Tür. Bulgarien blockiert die Verhandlungen mit Nordmazedonien und ist bislang nicht davon abzubringen.
Die EU zeigt im Grunde seit dem Aufmarsch russischer Truppen Ende letzten Jahres an der Grenze zur Ukraine ein ungewohnt entschlossenes und geschlossenes Bild. An den inzwischen sechs großen Sanktionspaketen war bereits spätestens seit November letzten Jahres gearbeitet worden, als vielerorts noch die Hoffnung bestand, Putin werde es beim Säbelrasseln belassen.
Für etliche Mitgliedsstaaten war es alles andere als leicht, mitzumachen. Das intensive Ringen um einen Öl-Einfuhrstopp hat gezeigt, wie unterschiedlich die Ausgangssituationen in den 27 Mitgliedsstaaten sind. Aber auch in diesem Fall hat man einen Weg gefunden.
Die Flexibilität und gleichzeitig harte Entschlossenheit hätte man der EU zuvor kaum zugetraut. Da machten eher oberste Gerichtsverfahren wegen Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien Schlagzeilen. Aber ausgerechnet das zuvor vielfach gescholtene Polen zeigt sich bei der Aufnahme von Geflüchteten in einem ganz anderen Licht.
Die EU macht derzeit einen Lernprozess durch und übernimmt Verantwortung, die Kritiker zuvor oft angemahnt haben. Und wie es scheint, entwickelt sich die EU zu einem ernstzunehmenden Player. Der nahtlose Übergang vom EU-Gipfel zum G7-Gipfel deutet auch einige Neuorientierungen an.
Demokratien gegen Autokratien, so eine der Beschreibungen, die eine schon länger anhaltende Entwicklung zuspitzt. „Die Autokraten dieser Welt beobachten sehr genau, was geschieht", meinte von der Leyen. G7 hatte dabei nicht nur den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands, sondern auch China im Blick, und das mit einer neuen gemeinsamen transatlantischen Brille. Ein 600 Milliarden schweres Investitionspaket soll den Expansionsbestrebungen Chinas („Neue Seidenstraße") etwas entgegensetzen.
Global geht es längst um harten Wettbewerb der Systeme. Die westlichen Demokratien hatten sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auseinander gelebt, die USA ihre Interessen auf den Pazifischen Raum konzentriert und Europa war mit selbst beschäftigt – Brexit ist nur ein Stichwort.
Putin hat offensichtlich auf diese Schwächen gesetzt, sich dabei aber nicht nur geirrt, sondern ganz das Gegenteil von dem erreicht, was er kalkuliert hatte. Und offenbar hat man in seinem Regime noch keine Linie gefunden, wie damit umzugehen ist. Darauf deuten die unterschiedlichen Einlassungen als Reaktion auf den EU-Beschluss zur Ukraine und Moldawien hin.
Die Verleihung des Kandidatenstatus sei ein „geopolitisches Manöver" mit dem Ziel, die „geopolitische Vereinnahmung" ehemaliger Sowjetrepubliken voranzutreiben, so die Sprecherin des russischen Außenministeriums. Und: Die EU zwinge Beitrittskandidaten zu „unrechtmäßigen Sanktionen" gegen Russland.
Derartige Äußerungen mag man hierzulande als irrwitzige Verdrehung von Entwicklungen sehen, aber sie liegen auf der Propaganda-Linie, die der Kreml von Anfang an sehr konsequent durchzieht. Dazu gehören auch Behauptungen, westliche Sanktionen seien schuld, dass kein Getreide aus der Ukraine auf die Weltmärkte komme.
Das Problem, das Brüssel längst erkannt hat: Diese Kampagnen verfangen in einigen Teilen der Welt durchaus. Und auch bei einigen hierzulande. Dies ist aber keine neue Erscheinung – getreu der Erfahrung, dass im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt.
Kampf gegen Fake News aus Russland
Das EU-Parlament hatte schon vor sechs Jahren eine Resolution gegen russische Propaganda verabschiedet, denn sie verzerre Wahrheiten, schüre Angst und Zweifel und wolle Europa spalten. In der EU hat der Angriffskrieg offensichtlich das Gegenteil erreicht. Inwieweit die Propaganda im globalen Kampf der Systeme seine Wirkung zeigt, ist noch schwer abschätzbar. In Brüssel ist jedenfalls klar, dass man dieser Desinformation etwas entgegenhalten muss. Gegenpropaganda ist dabei nicht Mittel der Wahl. Stattdessen gilt sachliche Aufklärung. So manche Reisen europäischer Spitzenpolitiker auf andere Kontinente haben viel damit dazu tun. Wie viel das nutzt, wird sich erst mit der Zeit erweisen, die EU versucht zumindest, langfristiges Vertrauen aufzubauen.
Das ist nicht nur dem Wettkampf der Systeme geschuldet, sondern auch ganz praktischen, kurz- bis mittelfristigen Interessen. Die durch den Krieg verursachten Probleme sind global und damit auch nur global anzugehen. Am offenkundigsten ist das bei der Frage der Energie und der Lebensmittel.
Brüssel erlebte nicht nur einen „historischen Gipfel", sondern tags darauf auch einen, bei dem es nicht um symbolische Akte, sondern knallharte Probleme ging: Energieversorgung für den bevorstehenden Winter und die fast schon galoppierende Inflation.
Gleichzeitig musste die ukrainische Armee den Kampf um Sjewjerodonezk aufgeben, die russische Armee hat nun die Stadt Lyssytschansk im Visier. Die Lieferung von schwerem Gerät an die Ukraine macht jetzt offensichtlich Fortschritte, auch die versprochenen deutschen Panzerhaubitzen sind angekommen. Gleichzeitig verstärkt die Nato weiter ihre Ostflanke. Kanada hat zwei Kriegsschiffe in die Ostsee und den Nordatlantik geschickt. Und der G7-Gipfel hat weitere Sanktionen gegen Russland auf den Weg gebracht.
Diese massiven Sanktionen scheinen allmählich ihre Wirkung zu entfalten. Darauf deuten zumindest die erkennbar steigende Nervosität im Kreml und der immer aggressivere Ton hin, in dem Russland die Maßnahmen anprangert. „Verrückte Sanktionen", wie es Putin auf dem St. Petersburger Wirtschaftsforum nannte, ist dabei noch eine der harmloseren Formulierungen.