Der ausgedehnteste Gebirgsstock der Berchtes-gadener Alpen wirkt wie ein zu Stein gewordenes Meer mit wogenden, felsigen Wellen – daher auch der Name „Steinernes Meer". Wer es durchwandert, fühlt sich in einer ungewohnten und auf besondere Art reizvollen Landschaft.
Der Wunsch nach schönem Wetter wird übererfüllt. Wider Erwarten zeigt der Himmel keine einzige Wolke, das Thermometer gar über 30 Grad. Die machen sich bereits am oberhalb von Maria Alm gelegenen Parkplatz Sandten bemerkbar. Mehr noch auf dem Weg hinauf zum oben auf der imposanten Felswand thronenden, aber von hier nicht sichtbaren „Riemannhaus". In der prallen Sonne wird die staubige Schotterstraße mit ihren vielen Serpentinen noch zäher und dank zweier vorbeifahrender Geländewagen noch staubiger. Schatten? Fehlanzeige. Kurz: Die knapp 500 Höhenmeter wären wir, wie jeder vernünftige Wanderer, lieber in der Kühle des Morgens gegangen. Aber Frühstücksbüfett und Naturteich im Hotel waren zu verlockend. Den späten Aufbruch müssen wir also büßen. Mit extra viel Schweiß. Was auch daran liegt, dass wir Gepäck für drei Tage Wanderung mitschleppen und die Luft heute steht.
Eine Wende bringt das Ende der Straße. Dort, wo die Materialseilbahn – das Ziel der Offroader – beginnt. Und der echte Wanderweg, der schließlich zum ernst zu nehmenden Ramseidersteig wird. Auch das Panorama wird spannender, wobei wir uns mit Blick auf die beeindruckende Wand mitunter fragen, wo genau es denn eigentlich durchgehen soll. Doch immer wenn man denkt, hier geht es aber wirklich nicht weiter, windet sich der Steig geschickt in vielen Kehren durch den steilen Felskessel.
Die Route ist zwar als schwarz gekennzeichnet, aber Einheimische haben versichert, dass die drei Stunden für Wanderer mit „normaler Kondition", Schwindelfreiheit und Trittsicherheit kein Problem darstellen. Zahlreiche entgegenkommende Leute bestätigen: Dies hier ist keine Route für Cracks. Jüngere Kinder werden aber durchaus mal „an der Leine" geführt. Im oberen Bereich verstehen wir auch, warum. Schließlich führt der schmale Pfad mitunter knapp an der steil abfallenden Kante entlang. Gut, dass es ein Seil zum Festhalten gibt! Zusatzequipment oder ein Guide wären aber übertrieben gewesen, es sei denn, man hat ausgeprägte Höhenangst. Ohnehin ist der eher abenteuerlich als angsteinflößende Abschnitt – wir einigen uns auf „hellschwarz" – nur von kurzer Dauer. Danach geht es wieder locker-flockig über Wiesen und nur noch sanft bergauf zum leuchtend weißen „Riemannhaus" auf 2.177 Metern Höhe. Wow! Das bis auf das Jahr 1885 zurückgehende Alpenvereinshaus liegt wahrlich spektakulär zwischen Sommerstein und Breithorn, die links und rechts steil in die Höhe ragen. Bei einem, ach was, mehreren, kühlen Getränken auf der Terrasse – jetzt mit Wolken und Wind! – können wir die Panoramasicht voll und ganz genießen.
Der Watzmann ragt heraus
„Oben auf dem Breithorn ist sie noch viel schöner und bei Sonnenuntergang!", rät uns die Bedienung. Ein guter Tipp, insbesondere weil der leichte Weg ohne Gepäck noch viel leichter ist. Knapp eine Stunde rauf, halbe Stunde genießen, halbe Stunde runter. Quasi direkt ins Bett. Der Spätaufbrechfehler will nicht wiederholt werden, zumal ein tendenziell ja eher im späteren Tagesverlauf aufkommendes Gewitter im Steinernen Meer kein Spaß ist. Und an Tag zwei steht schließlich die Durchschreitung des Karsthochplateaus an. Schnell wird klar, wie der rund 160 Quadratkilometer große Gebirgsstock zu seinem Namen kam: Fast endlos erstrecken sich die durch das tatsächlich einst von Meerwasser gebildeten Gesteinsformationen in Richtung Horizont. Offenbar wurden hier schon zahlreiche Fossilien gefunden, die an die Zeit erinnern, in der das Gelände tatsächlich mit Wasser bedeckt war. Wir haben nur Augen für die surreal erscheinende Weite der unwirklichen Hochfläche, die von kletteraffinen Gipfeln wie der 2.653 Meter hohen Schönfeldspitze, die unsere Frühstücksnachbarn in Angriff nehmen wollten, umrahmt wird. Einer ragt aber heraus: der Watzmann. Der steht nördlich und etwas außerhalb des Steinernen Meeres und freilich schon in Bayern. Im Lauf des Tages werden wir auch zweimal die Grenze passieren, einmal aus Österreich raus und dann wieder rein. Und zwischendurch aber immer wieder stehen bleiben – und über das viele Grau in all seinen Nuancen staunen. Wobei selbst im Hochsommer noch Schneereste für weiße Kleckse sorgen. Die an XXL-Nationalparks in den USA oder Patagonien erinnernde Kulisse hat was Meditatives. Wir vermuten, dass die an jedem Samstag nach dem 24. August seit fast 400 Jahren stattfindende Bartholomä-Wallfahrt auch deshalb so großen Zulauf hat – rund 2.000 Pilger machen sich von Maria Alm zum Königssee auf. Und wir verstehen, was Marco Pointner, Geschäftsführer der Saalfelden Leogang Touristik, wohl gemeint hat, als er sagte: „Nichts lenkt hier oben vom Wesentlichen ab und das ist, was wir unseren Gästen wünschen: Das Abschalten vom Alltag, das schlichte Wandern soll bei uns im Mittelpunkt stehen."
Atemberaubende Ausblicke
Vermutlich ist das auch so zu verstehen, dass in diesem unwegsamen Gelände ja auch gar keine anderen Fortbewegungsarten möglich sind. Straßen gibt es ohnehin keine, ebenso wenig Schotter- oder Forstwege. Nicht mal Biketrails. Mit dem Rad kommt man hier schlicht nicht durch, da hilft auch kein Elektromotor. Die teils gewaltigen Felsbrocken überwindet man einfach nur zu Fuß, und auch nur der Mensch. Okay, Murmeltiere und andere tierische Kletterfexe. Aber eben keine Kühe, die sonst so typisch sind für die höheren Alpenregionen. Hier jedoch hätten sie ein Problem, findet sich außer ein paar zaghaften, aus den Ritzen sprießenden Blümchen und Moosen doch kaum Vegetation, ergo auch kein Viehfutter. Nahrung für Wanderer gibt es schon, und zwar im rund zweieinhalb Wanderstunden entfernten „Kärlingerhaus" am Funtensee.
Gut, dass wir nur etwas essen und nicht übernachten wollen. „Alles ausgebucht", meint Hüttenwirt Andreas Bachmann. Das wussten wir bereits. In normalen, sprich nicht durch Lockdowns ausgebremsten Jahren, übernachten hier mehr als 12.000 Gäste, mehr als das Doppelte als auf dem „Riemannhaus". Wer nicht Monate im Voraus gebucht hat, muss irgendwann weiter. So wie wir. Während die meisten von hier Richtung Königssee weitergehen, um dann im berühmten St. Bartholomä ins Elektroboot zu steigen, lautet unser Ziel „Ingolstädter Haus". Und dafür geht es wieder bergauf, fast 700 Höhenmeter. Der etwas mehr als dreistündige Weg durch Felsen und Schotter lohnt sich. Zwar gestaltet sich die Landschaft hier wenig reizvoll, aber es ist der kürzeste Weg zur sehr gemütlichen Hütte, die man nur empfehlen kann.
Tags darauf nehmen wir den gut ausgebauten, wieder südwärts führenden „Eichstätter Weg", um in einem andauernden Auf und Ab über Felsen und Steine bis zum Anstieg auf die Weißbachscharte zu gelangen. Der letzte wirklich steile Abschnitt belohnt uns mit einem atemberaubenden Ausblick einerseits zurück auf das gesamte Steinerne Meer und andererseits auf das Pinzgau und das letzte Etappenziel vor dem Abstieg ins Tal: die auf 1.752 Metern gelegene „Peter Wiechenthaler Hütte". Die erstrahlt in frischem Look –
das Pächterpaar Feller hat die Corona-Jahre für einen gelungenen Umbau genutzt. So ein Aktivismus scheint ansteckend zu sein: Im Spätsommer 2022, nach der Bartholomä-Wallfahrt, soll auch das „Riemannhaus" ein Facelift bekommen. Für den Umbau des rund drei Millionen Euro teuren Projekts sind rund eineinhalb Jahre eingeplant. Angesichts überschaubarer Übernachtungsalternativen ein guter Grund, das Steinerne Meer noch vorher bei einer Mehr-Tages-Tour zu erwandern. In der Regel ist das ab Juni gut möglich.