Im Gegensatz zu den größeren Kanaren-Inseln wie Lanzarote, Gran Canaria, Teneriffa, La Gomera oder La Palma blieb El Hierro bisher vom Massentourismus verschont.
Es ist stockdunkel. Man kann nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen. Ich sitze auf einem Stein mitten in einer Höhle am Süd-West-Ende der Kanaren-Insel El Hierro. Michael Krämer knipst die Kopflampe an unseren Helmen an: „El Hierro ist vor ‚nur‘ gut einer Million Jahren entstanden", sagt er.
El Hierro ist die jüngste der Kanaren-Inseln und befindet sich noch in der sogenannten Schildvulkan-Phase, der ersten von drei Entstehungsphasen solcher vulkanischen Inseln. Gleichzeitig ist das gut 1.400 Kilometer vom spanischen Festland entfernte Eiland mit knapp 270 Quadratkilometern und weniger als 11.500 Einwohnern die zweitkleinste der bewohnten Kanaren-Inseln und die kleinste der sieben traditionellen Hauptinseln. Nur La Graciosa, westlich von Lanzarote gelegen, ist kleiner. Ein paar tausend Touristen kommen pro Jahr hierher – auf den größeren Inseln des Archipels sind es Millionen.
Tolles Ziel für Individualisten
Die Cueva del Acantilado, die wir durschreiten, ist eine der längeren von Hunderten Vulkan-Höhlen. Die Hohlräume haben sich im Lavagestein gebildet, als das glühende Magma aus dem Erdinneren aufstieg und auf dem Weg zum Meer erkaltete. Michael Krämer zeigt beim Gang durch die mehrere hundert Meter lange Höhle die verschiedenen Lava-Arten und erklärt, auf welchen Wegen und zu welchen Zeiten sie in den Haupt-Tubus flossen. Am Ende der Höhle schaut Krämer hinaus auf die Weiten des Atlantiks. Hier ergossen sich die Lava-Massen einst ins Meer.
Der 61-Jährige, der aus Sulzbach im Saarland stammt, wanderte vor 13 Jahren nach El Hierro aus. Dort gründete er ein Bauunternehmen und widmete sich einer seiner Leidenschaften: der Höhlenforschung. Dazu gründete er die Asociación Suricatas, um den gesetzlichen Vorgaben – einschließlich der Versicherung für die Teilnehmer seiner Exkursionen –
zu genügen. Seine Liebe zum Untergrund entdeckte er als Kind, als er mit seiner Tante Edelsteine in Idar-Oberstein schürfte. Später arbeitete er im Bergbau, bevor er Taucher bei der Bundeswehr wurde. Dem Tauchen – heute eines seiner weiteren Hobbys – kann er in den Atlantik-Fluten bestens frönen.
El Hierro ist bis jetzt vom Massentourismus verschont geblieben. Vielleicht liegt das daran, dass es zwar zahlreiche Möglichkeiten zum Baden im Meer oder in einer der „Piscinas" gibt – das sind natürliche, manchmal durch Menschenhand ausgebaute, mit Atlantikwasser gespeiste Schwimmbecken. Lange Sandstrände mit Bars, Restaurants oder riesige Hotel- und Appartementanlagen wie auf den anderen großen Kanaren-Inseln sucht man hier aber vergebens. El Hierro ist daher eher Ziel von Individualtouristen, die Ruhe und Natur suchen und gerne wandern. Überall findet man, vor allem an den Badestellen, Picknickplätze, wo man Grillen kann, was insbesondere die Spanier lieben.
Wenige Kilometer von der Cueva del Acantilado entfernt liegt der westlichste Punkt Spaniens. Der Punkt ist eher unspektakulär, aber einen Spaziergang wert. Oder man fährt über eine Piste dorthin, die allerdings nur für 4x4-Fahrzeuge erlaubt ist. Am Ende steht eine Stehle aus Beton mit einer halben Weltkugel in der Mitte. Man blickt aufs blaue Meer. Wenn die Erde nicht gekrümmt wäre: Könnte man bei guter Sicht bis nach Florida gucken? Einst, als man glaubte, die Erde sei eine Scheibe, galt dieser Punkt als das Ende der Welt. In der Antike wurde hier der Ferro-Meridian festgelegt. Erst 1884 holten die Briten den Null-Längengrad nach Greenwich, der heute den meisten Karten zugrunde liegt.
Ganz unten auf El Hierro (Deutsch: das Eisen) kündet ein Denkmal am äußersten Ende der Hafenmauer von La Restinga vom südlichsten Punkt Europas. Besser müsste es vielleicht heißen: Der südlichste Punkt der Europäischen Union. Denn El Hierro gehört politisch zwar zu Spanien, geografisch aber zu Afrika.
Ihre Entstehung verdanken die Kanaren ihrer Lage am Übergang zwischen der amerikanischen und der afrikanischen Kontinentalplatten. Die amerikanische schiebt sich langsam unter die afrikanische, was die Inseln aus dem Wasser hebt, so die Theorie. „El Hierro hebt sich jedes Jahr um einen bis anderthalb Millimeter aus dem Meer", berichtet Michael Krämer.
Auch im Süden der Insel fallen die Berge steil ins Meer ab. Das Tal von El Julan nimmt breiten Raum ein. Hier finden sich auch die meisten archäologischen Funde aus der Zeit der Bimbaches, der Ureinwohner El Hierros. Vermutlich brachten die alten Römer sie hierher. Das Gelände lässt sich gut auf einer der geführten Touren per pedes und/oder Geländewagen vom Parque Cultural de El Julan aus erkunden. Auf dem meist schwarzen Lavagestein haben die Bimbaches Symbole und Schriftzeichen eingemeißelt. Die Schriftzeichen, sogenannte Petroglyphen vermutlich libysch-berberischer Herkunft, sind bis heute nicht entziffert.
Versammlungsplatz der Ureinwohner
Nach anderthalbstündiger Wanderung führt uns Gästeführer Sergio Morales zum Tagoror, dem ehemaligen Versammlungsplatz der Bimbaches-Großfamilie. Hier gibt es einen größeren äußeren und einen kleineren inneren Kreis. Im großen Kreis wurden wahrscheinlich die Belange der ganzen Gruppe besprochen, im kleinen Kreis Nachbarschaftsstreitigkeiten geschlichtet, berichtet Morales. „Am Ende musste einer wohl doch den Stein vom Nachbarn bezahlen", lacht der 45-Jährige. Neben dem Tagoro ist ein Barranco, eine Schlucht, voll mit weißen Muschelschalen. „Die Schicht ist mindestens viereinhalb Meter dick", berichtet Sergio. Die Muscheln waren eines der Hauptnahrungsmittel der Bimbaches. Die Schalen haben sie einfach in den Barranco geworfen – wohl, wenn sich ihre Zusammenkünfte hinzogen.
Wasser ist damals wie heute der entscheidende Faktor für das Überleben auf der Insel. In der nördlichen Gemeinde San Andrés stand der als berühmtester Baum der Welt beworbene Árbol Garoé, der auch heiliger Baum genannt wird. Er soll sowohl die Bimbaches als auch danach die spanischen Eroberer vor dem Verdursten bewahrt haben. Er wurde im 17. Jahrhundert bei einem Orkan entwurzelt.
Einer der vielen Legenden nach leitete der Baum sein Wasser bei einer Invasion der Spanier, die Anfang des 15. Jahrhunderts die Insel eroberten, über seine Wurzeln in einen Tümpel. Dort sollen es die Einwohner gesammelt und so der Belagerung wesentlich länger als erwartet standgehalten haben. Wären sie nicht von Agarfe, einer jungen Bimbache-Frau, verraten worden: Hätten sie vielleicht die durstenden Kastillier zurückschlagen können? Später wurde an Stelle des Árbol Garoé ein Stink-Lorbeer gepflanzt. Dichte Wolken hängen wie so oft im Winter über dem Gebiet. Heftiger Wind bläst dichte Nebelschwaden über die Berge. An dem Baum mit seinen Flechten fallen dicke Tropfen herunter und werden in Auffangbecken gesammelt.
Kleine Hotels statt Bettenburgen
So geschieht es tausendfach im Nebelwald der gut 1.500 Meter hohen Insel: Die Bäume saugen das kühle Nass förmlich aus den Wolken und sorgen für eine blühende Natur.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche Brunnen gebohrt, die aus unterirdischen Seen über Stollen und Tunnel, die sogenannten Galerien, gespeist werden. Heute finden sich noch zahlreiche „lost places", die aufgegeben wurden und deren Maschinerie vor sich hin rostet.
„Diese Maschine lief wohl nur ein gutes halbes Jahr", überlegt Michael Krämer. Wir stehen vor einem Volvo-Aggregat aus den 1960er-Jahren, mit dem Wasser aus einem Brunnen im El-Golfo-Tal gefördert wurde. Das sicher nicht ganz billige Aggregat hat gerade mal gut 4.000 Betriebsstunden auf der Uhr.
Damals förderte man hier einige Zeit Wasser zum Trinken und zur Bewässerung der Plantagen, das sich aber als zu salzhaltig erwies. Die Förderung wurde kurzerhand eingestellt, Gebäude und Maschinen stehengelassen. Die meisten Gerätschaften haben sich Sammler gemopst. Nur wenige Teile, wie der schwere Stromgenerator, oder eine der einst zahlreichen Loren – „Made in El Cubano" – stehen noch herum. Mit den Waggons wurden die herausgesprengten Gesteinsbrocken abtransportiert.
Das Galerie-Wasser reicht längst nicht mehr aus, um die gewachsene Bevölkerung und die Besucher zu versorgen oder die Bananen- und Ananas-Plantagen zu bewässern. Der größte Teil des Wassers kommt heute aus Meerwasserentsalzungsanlagen und ist gechlort.
Umsonst Galerie-Wasser zapfen kann man sich aus dem Pozo Galeria Los Padrones, einem 52 Meter tiefen Brunnen am Nordende des El-Golfo-Tals. Das Wasser kommt aus einer 1.100 Meter langen Galerie unter dem Berg, der in der Ferne aufragt. Der Brunnen sei der einzige auf den Kanarischen Inseln, an dem man sich umsonst bedienen kann, ist auf einer Tafel am Brunnenhaus zu lesen.
So verändert die Zeit auch die Insel von Jahr zu Jahr weiter. Viele Straßen wurden geteert. Die Insel-Regierung weigert sich aber beharrlich, größere Häuser, etwa eine Bettenburg wie andernorts auf den Kanaren, zu genehmigen. Auf El Hierro gibt es nur wenige kleinere Hotels – darunter das „kleinste der Welt" mit gerade einmal vier Zimmern. Die meisten Urlauber kommen privat unter – in Ferienhäusern oder -appartements.