Seit über zehn Jahren wird versucht, die Zahl der Bundestagsabgeordneten zu begrenzen – ohne Erfolg. Wer beschließt schon gern eine Reform zum eigenen Nachteil?
Das deutsche Wahlrecht ist selbst für Mathematiker eine echte Herausforderung. Diplomierte Damen und Herren der Zahlen können am Wahlabend nach der ersten Hochrechnung nicht aus dem Stegreif sagen, wie sich die neuen Mehrheitsverhältnisse nun tatsächlich im zukünftigen Bundestag auswirken. Schuld daran sind die Überhang- und daraus resultierende Ausgleichsmandate in der Aufrechnung von Direktmandaten und Zweitstimmen.
Schon dieser Satz lässt ahnen, dass eine Wahlrechtsreform nur etwas für mathematische Vollprofis ist, die idealerweise gleichzeitig Staatsrechtler sein sollten. Das System der Erststimme für den Direktkandidaten und der Zweitstimme für die Partei ist grunddemokratisch gedacht und hat sich in den ersten 40 Jahren der Bundesrepublik bestens bewährt. In einem damals meist Vier-Parteien-Parlament mit drei Fraktionen (Union, SPD und FDP) war das mit der Aufrechnung der personalisierten Direktmandate und den Mehrheitsverhältnissen der Parteien durch die Zweitstimmen kein Problem. Die beiden Volksparteien fuhren noch Ergebnisse von gut 40 Prozent ein, die FDP lag meist irgendwo um die zehn Prozent.
Bundestag wird immer größer
Doch das änderte sich bereits mit dem dauerhaften Einzug der Grünen in den Bundestag. Dank der Überhang- und Ausgleichsmandate fing der Bundestag langsam an zu wachsen, wenn auch in einem moderaten Rahmen. Doch das hat sich in den 2000er-Jahren deutlich gewandelt. Regulär sind 598 Bundestagsabgeordnete vorgesehen. Dies ergibt sich aus 299 Wahlkreisen. Pro Wahlkreis ziehen immer zwei Abgeordnete in den Bundestag ein: der Direktkandidat und der Listenkandidat einer Partei, der über die Zweitstimme die Mehrheit geholt hat. Soweit, so eindeutig das deutsche Verhältniswahlrecht. Der Haken an der Sache: Parteien gewinnen per Direktmandat oft mehr Plätze im Parlament, als ihnen laut dem Zweitstimmenergebnis überhaupt zustehen. Beredtes Beispiel ist da Bayern: Bei der Bundestagswahl im September letzten Jahres gewannen die CSU-Direktkandidaten 45 von 46 Wahlkreisen. Doch in der Gesamtabrechnung durfte die CSU gar nicht so viele Abgeordnete nach Berlin schicken. Damit das bayerische Wahlergebnis im Bundestag die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse abbildet, bekam vor allem die SPD, als Gegengewicht zu den überzähligen CSU-Direktmandaten, diese durch Ausgleichmandate aufgerechnet. Nach diesem Beispiel wurden natürlich auch in den 15 anderen Bundesländern die überzähligen Überhang- durch Ausgleichsmandate aufgerechnet.
Ergebnis: Anstelle von 598 sitzen 736 Bundestagsabgeordnete im Parlament, so viele wie noch nie in den 19 vorherigen Legislaturperioden. Schuld an dieser expansiv wachsenden Volksvertretung ist vor allem das gewandelte Wahlverhalten. Direktkandidaten müssen nicht mehr über 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, wie bis in die 1990er-Jahre. Je nach Wahlkreis reicht auch ein Ergebnis weit unter 30 Prozent für einen Sitz im Bundestag. Da dieses Ergebnis gerade bei kleinen Parteien in fast allen Fällen nicht mit dem Gesamtergebnis korrespondiert, hagelt es dann für die anderen Parteien Ausgleichsmandate.
Dieses System soll nun endgültig reformiert werden. Zwei Vorschläge liegen auf dem Tisch der Wahlrechtskommission des Bundestages, um wieder runter auf 598 Abgeordnete zu kommen. Die Parteien der Ampelregierung wollen das Direktmandat (Erststimme) schwächen und das Listen- oder Parteimandat (Zweitstimme) aufwerten. Demnach kann ein Direktkandidat, der seinen Wahlkreis gewonnen hat, nur noch dann in den Bundestag einziehen, wenn auch seine Partei im Wahlkreis auf dem ersten Platz gelandet ist. Damit aber die personalisierte Erststimme dem Wählerwillen erhalten bleibt, soll es eine Ersatz-, also eine dritte Stimme geben. Das würde heißen, bei der nächsten Bundestagswahl könnten die Bürger zwei Erststimmen abgeben: für ihren Favoriten und für einen weiteren, dem sie an zweiter Stelle auch den Job im Bundestags zutrauen würden. Wäre bereits bei der letzten Bundestagswahl im September nach diesem Prinzip gewählt worden, wären 34 Direktkandidaten nicht im Bundestag gelandet: Zwölf von der CDU, elf Mal hätte die CSU, zehn Mal die SPD und einmal die AfD das Nachsehen gehabt. Parlamentarisch regelrecht angeschmiert wäre nach dem Ampel-Vorschlag die Linke gewesen. Sie lag unter der Fünf-Prozent-Hürde und sitzt nur dank ihrer drei Direktkandidaten als Fraktion im Bundestag. Doch laut Ampelwahlrechtsreform hätten es nur zwei Direktkandidaten ins Parlament geschafft und eine Linke-Bundestagsfraktion würde es aktuell nicht mehr geben. Da wundert es wenig, dass gerade die Linke gegen den Vorschlag von SPD, Grünen und FDP ist.
Parteien haben sehr verschiedene Ideen
Auch CDU und CSU verwahren sich strikt gegen den Vorschlag. Kein Wunder, die Union holt traditionell seit Jahrzehnten immer die meisten Direktmandate, vor allem die CSU. Sollte es mit den Stimmen der Ampelkoalition zu dieser Wahlrechtsreform kommen, hat CSU-Landesgruppenchef Dobrindt bereits eine Verfassungsklage in Karlsruhe angekündigt. Doch noch hofft man in der Union auf die „demokratische Vernunft" der Regierungskoalition, so Unionsfraktionschef Friedrich Merz. Immerhin gibt es ja einen Gegenvorschlag, der, wenig verwunderlich, die Direktkandidaten völlig unangetastet lässt, sondern von hinten wegstreicht: das sogenannte „Grabenwahlrechtsmodell". Um wieder auf 598 Parlamentarier zu kommen, sollen die 299 Direktkandidaten auf jeden Fall ihr Mandat wahrnehmen können. Dazu kommen dann noch die 299 Listenkandidaten. Das Auswahlprinzip ist denkbar einfach: Das Zweitstimmenergebnis entscheidet für jede Partei, wie viele Parlamentarier sie von ihrer Liste entsenden darf. Aus staatsrechtlicher Sicht ist dieses Verfahren allerdings sehr umstritten. Der politische Wille des Souveräns in der Fläche, festgestellt durch das Gesamtwahlergebnis, würde stark von der tatsächlichen Stärke der Parteien im Bundestag abweichen. Mit dem „Grabenwahlrecht" der Union würde also für den Wähler die Zweitstimme entwertet, entgegen dem Modell der Ampelregierung, wonach die Erststimme geschwächt wird.
Beide vorgelegten Modelle glänzen nicht unbedingt durch überbordende parlamentarische Kreativität. Das Ampelmodell gibt es bereits seit drei Jahren, und zwar auch als Vorlage der AfD-Bundestagsfraktion. Darum würde die AfD im Falle einer Abstimmung im Parlament diesem Regierungs-Modell vermutlich zustimmen. Auch das Unionsmodell ist altbekannt, ein ähnlich lautender Vorschlag wurde bereits in der letzten Legislatur von der Union vorgelegt, damals noch unter Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Doch auch Schäuble scheiterte mit seinem großen Vorhaben einer Wahlrechtsreform ausgerechnet an seinen eigenen Leuten. Für die Linke wäre der erneute Unionsvorschlag eher tragbar als das Ampelmodell. Ihre derzeit einzige politische Stärke sind ihre drei Direktkandidaten, denen sie ihre Fraktionsexistenz im Bundestag überhaupt verdankt.
Ob sich eines der beiden Modelle durchsetzen kann, ist mehr als fraglich. Das Urproblem, nicht nur für Staatsrechtler, ist das Verfahren zur Wahlrechtsreform. Die Abgeordneten sollen selber eine Reform auf den Weg bringen, die, je nach Modell, ihre eigene Existenz als Parlamentarier im Bundestag spätestens 2025 beenden könnte. Da ist der Enthusiasmus bei allen Beteiligten für solch einen Schritt doch sehr verhalten. Vielleicht wäre es besser, wenn alle Verfassungsorgane mit dieser Aufgabe betraut würden. So könnte eine Kommission, zusammengesetzt aus Mitgliedern des Bundespräsidialamtes, Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht eher eine Wahlrechtsreform bewältigen. Doch das ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Um das zu ändern, bedürfte es einer Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag. Doch die Abgeordneten werden vermutlich den Teufel tun, diese Entscheidung aus ihren eigenen Händen zu geben. Da beißt sich die Katze demokratisch dann endgültig in den eigenen Schwanz.