In „Meine Stunden mit Leo" möchte eine Witwe nachholen, was sie in ihrer Ehe nicht bekam: Sex. Dafür bucht sie sich einen Callboy, dem sie näherkommt als gedacht – ab 14. Juli im Kino.
Ein Kammerspiel zu drehen ist ein Risiko. Denn eine Geschichte, die fast ausschließlich in einem Raum stattfindet, funktioniert nur, wenn die Schauspieler charmant sind und miteinander aufs Perfekteste eingestellt sind. Dieser Charme ist eine Eigenschaft, die sehr schwer zu beschreiben ist, aber sofort wahrgenommen wird, wenn er von der Leinwand auf die Zuschauer übergeht. Bei „Meine Stunden mit Leo" ist die Kunst des Kammerspiels gelungen:
Nancy ist frustriert von ihrem Leben. Über ihr Berufsleben sagt die angehende Rentnerin, sie hätte nie etwas Außergewöhnliches zustande gebracht. Bei einem Blick in den Spiegel findet sie, dass sie ganz schön schrumpelig geworden ist. Und der Sex in ihrer Ehe war auch nix. „Mein Mann besteigt mich, rollt sich dann zur Seite und schläft ein", sagt Nancy. Nun will die pensionierte Lehrerin sich ein Abenteuer gönnen – und bucht sich einen jungen Mann für ein bezahltes Sexabenteuer in einem Hotelzimmer.
Die Spannung in „Meine Stunden mit Leo" entsteht, weil es um viel mehr geht, als ausschließlich um eine erotische Nacht auf Rechnung. Nancy denkt, sie könne ihr ganzes Leben korrigieren, indem sie ihrem Callboy eine Liste mit versäumten Sexpraktiken vorträgt. Eine Selbsttäuschung, ein Trugschluss, wie sich schnell herausstellt. Jahrzehntelange Versäumnisse lassen sich nicht in einem Zimmer durch zwei Stunden anonymen Sex bewältigen – dies zu Anfang der Handlung zu erkennen, erschüttert Nancy. Aber Leo ist Profi in seinem Job: Statt ihr übereilt zu versprechen, sie zu ihrem ersten Orgasmus zu bringen, stellt er ihr Fragen, er lässt sie reden über Enttäuschungen, Wünsche und Ziele, die es noch zu erreichen gilt.
Über den Umgang mit verpassten Chancen und unerfüllten Träumen
In der Rolle der Nancy ist Emma Thompson ist Bestform. Die zweifache Oscar-Preisträgerin („Wiedersehen in Howards End", 1992, und „Sinn und Sinnlichkeit", 1996) spielt die zunächst noch so biedere Lehrerin mit trockenem Witz, emotionalem Chaos, seelischem Frust, körperlichem Selbsthass und einer guten Portion Hysterie. Demgegenüber steht der in Deutschland unbekannte Daryl McCormack. Der 29-jährige Ire spielt Callboy Leo gut gelaunt, sexy, voller Selbstbewusstsein, freundlich, offen und ohne Vorurteile seiner älteren Kundin gegenüber. Dennoch: Es ist nicht so, dass Nancy sofort dahinschmilzt und sich dem attraktiven Leo hingibt. Das Drehbuch hält noch einige Konflikte bereit: Nach dem ersten etwas holprigen und dennoch so intimen Treffen im Hotel verlässt der Film das Kammerspielartige und öffnet sich dem Alltag der Protagonisten. Zurück in ihrem alten Leben überschreitet Nancy die geschäftlichen Grenzen, indem sie sich über das Privatleben Leos informiert. Nancy zwingt Leo, seine Schönlingsfassade aufzugeben und zu offenbaren, dass auch auf seiner Seele so manches nicht gelöste Problem lastet. Nancys unprofessionelles Verhalten erstickt das vorsichtig wachsende Vertrauen zwischen ihr und Leo. In einer finalen Szene sprechen sich die beiden unterschiedlichen Menschen aus. Das Filmende bietet ihnen jeweils einen neuen Weg, ob sie ihre Ziele erreichen, ist offen.
Und so entwickelt sich „Meine Stunden mit Leo" weg von ähnlichen Filmen wie „Pretty Woman" (1990) oder „Ein Mann für gewisse Stunden" (1980). Von Szene zu Szene öffnet sich dem Zuschauer eine faszinierende Themenvielfalt wie Intimität, Einsamkeit, unerfüllte Träume, nicht ergriffene Gelegenheiten und den Wert sexueller Freude für Menschen jeden Alters. Es geht auch um die Frage, die sich wohl jeder Mensch irgendwann stellt: Habe ich alles getan, um mein Leben lebenswert zu gestalten? Habe ich alle Chancen wahrgenommen, habe ich wichtige Gelegenheiten verstreichen lassen? Kann ich zufrieden auf vergangene Jahrzehnte zurückblicken? Nancy jedenfalls zeigt, dass es nie zu spät ist, einem Leben neue Impulse zu geben. Während die Witwe anfangs noch mit ihren geheimen Wünschen ebenso hadert wie mit ihrem alternden Körper, kann sie sich am Ende entschlossen und selbstbewusst nackt im Spiegel betrachten. Ja, ein bisschen schrumpelig ist sie geworden, findet Nancy immer noch – aber dennoch erotischer als je zuvor.