Es lohnt sich, die Stadt in der Schweiz auf wenig bekannten Pfaden zu erkunden. Dabei trifft man auf einen Sämann, schaut von einem Turm über die Stadt oder entdeckt ausgefallene Kunst.
Wenig bekannt ist Lochergut, das jüdische Viertel mit der boomenden Restaurantszene. Bis 2010 rauschte hier die Stadtautobahn hindurch. Heute sind viele Straßen Tempo-30-Zonen; entlang der Weststraße, der einstigen „Pesttangente", hat die Stadt öffentlichen Raum von den Autos für die Menschen zurückerobert.
Hier trifft man vielleicht auf einen hageren Mann mit Hut, der an einer mannshohen Distel Samen abstreift. Der Mann ist kein Samenräuber, im Gegenteil: ein Sämann. Maurice Maggi, Jahrgang 1955, Landschaftsgärtner und Koch, sät seit den 1980er-Jahren Blumen im öffentlichen Raum. Er habe kein Talent zum Sprayen gehabt, sagt er, „so habe ich Blumen-Graffitis gemacht". So fing es an: Er sollte sich auf dem Zürichberg um den verwilderten Garten einer alten Dame kümmern. Der war zugewachsen mit Stockrosen, also Malven. „Danach hatte ich einen Lieferwagen voller Saatgut".Baumscheiben zu begrünen war ein subversiver Akt, „da durfte nichts wachsen unter den Bäumen, das wurde von Hand oder mit Herbiziden ausgemerzt". Mit den Stockrosen, die „so schön und auf Augenhöhe blühen, kamen die Stadtgärtner in einen kleinen Gewissenskonflikt". Und haben viele stehen lassen. Heute sät Maggi 40 heimische Pflanzen, unter anderem Leinkraut, Steinnelken, Schafsgarben und Brennnesseln. „Ich hab immer ein Säckchen dabei", sagt er und zieht die Samen aus seiner Umhängetasche.
Die Biodiversität in den Städten sei höher als auf dem Land, sagt Maggi. Auch in Berlin leben mehr Nachtigallen als in ganz Bayern. Für Zürich könne man auf einer Website nachsehen, wo welche Wildbienen leben – und welche Pflanzen sie benötigen. Menschen, die Wildwuchs für Unkraut halten, denen müsse man es eben erklären. „Informierte Menschen sind vernünftige Menschen", davon ist Maurice Maggi überzeugt.
Urbanes Leben in Zürich West
Zu seinen Lieblingen zählen die Disteln, „die sind so markant und blühen hoch". Und wenn gar nichts hilft, sät er Brennnesseln aus. „Ökologisch wirklich wertvoll" und dank der Nesseln eine kleine Strafe für diejenigen, die sie ausmerzen wollen. Maggi wohnt seit Jahrzehnten hier, abgesehen von einer Zeit in New York City. Er sei ein Stadtmensch, sein Leben lang, sagt er. Statt ins Grüne zu ziehen macht er lieber die Stadt grüner. Maurice Maggi sagt, seiner Meinung nach müsste jede versiegelte Fläche beweisen, dass sie zu Recht versiegelt ist. „Wir haben in Zürich 4,2 Quadratkilometer Gehsteig. Wenn man nur zehn Prozent wegnehmen würde, würde man eine zehn Fußballfelder große Fläche gewinnen." Fürs wilde Grün.
Nach Zürich West kommen Zürcher, die das Urbane lieben. Und Besucher, wenn sie etwas mehr Zeit haben. Es sei ein bisschen wie Berlin, sagen die Zürcher. Also multikulti mit Streetfood, Restaurants mit Sitzplätzen auf Europaletten, so der Style. Überragt wird das Viertel zwischen Bahntrasse und Limmat vom Prime Tower, einem grün verglasten Büroturm, 126 Meter hoch und bis 2015 das höchste Gebäude der Schweiz. Denn natürlich ist Zürich vor allem auch das: Bankenstadt. Im Kreise 5, wie Zürich West offiziell heißt, mischen sich die Welten, etwa bei einem Besuch im „Frau Gerolds Garten". Gegründet hat diesen Katja Weber, eine Deutsche, Investment-Bankerin mit einer Design-Masterarbeit zum Thema „Entwicklung einer urbanen Erlebnislandschaft". Daraus entstand der Garten, eine Art Biergarten, der Tresen in einem aufgesägten Schiffscontainer, ein bisschen wildes Grün. Von den Bierbänken sieht man das Prime-Hochhaus – und einen Turm aus Schiffscontainern, der Freitag-Turm. Nicht an einem Freitag erbaut, sondern benannt nach der Firma, die hier ihre Umhänge-Taschen aus LKW-Planen verkauft. Man kann hinauf aufs Dach, der Blick über die Stadt und bis zu den Bergen lohnt das Treppensteigen.
Nahe von Zürich West beginnt auch eine E-Bike-Tour zu Kunst im öffentlichen Raum. Gemächlich radeln wir auf Fahrradwegen, bis die Kunsthistorikerin Barbara Döring absteigen lässt. Sie fragt, ob etwas auffällt. Auf einer Landzunge, am Zusammenfluss von Sihl und Limmat, stehen in großen Buchstaben die Namen der Flüsse – aber mit J statt I geschrieben. JJ also, eine Hommage an James Joyce, der gern hier stand und in Zürich begraben ist. Natürlich geht es auch zu einem Naegeli: Harald Naegeli musste 1984 als Sprayer von Zürich ein halbes Jahr ins Gefängnis. Längst ist er rehabilitiert, eines seiner berühmten Strichmännchen wurde zu einer Video-Installation am Schiffbau, einem ehemaligen Werksgelände, heute Bar und Dependance des Schauspielhauses. Auch auf eigene Faust kann man Kunst entdecken, vieles ist nicht zu übersehen. Etwa die fünf Meter hohe „Anne-Sophie" von Alex Hanimann, Professor für Visuelle Kommunikation an der Zürcher Hochschule der Künste. Die Chromstahlplastik aus 700 Metallblechen steht vor dem „25 hours Hotel". Winzig klein hingegen die bemalten Kaugummi-Reste von Ben Wilson, für die man schon genau hinsehen muss. Zwei davon kleben auf den Treppen vor dem Freitag-Turm.
Kakaobohnen kommen per Segelschiff
An der Europa-Allee wächst Zürich in die Höhe – ein hypermodernes Viertel mit Büros und Wohnblocks beim Bahnhof. Viel Beton, viel Glas, viel Geld. Wobei: Einige der Penthouse-Wohnungen stehen leer, erzählt Martin Birrer von Zürich Tourismus. Es scheint doch keinen Markt zu geben für Wohnungen, die 7.000 bis 9.000 Schweizer Franken Monatsmiete kosten. Mittags trifft man sich in der Markthalle, ein durchgestylter Markt, ein Food-Court mit einem sehr hübschen Restaurant.
Zürich ist nicht gerade berühmt für Kulinarik. Das soll sich ändern, so hat die Stadt das Food-Festival gestartet. Mit dabei ist „Das Provisorium". „Wir sind alle Foodies", beschreibt Natalie Toufexis das Personal im „Provisorium". Die Co-Working-Gemeinschaft ist in die 1947 erbaute ehemalige Großbäckerei Buchmann gezogen. Die backt nun außerhalb der Stadt. „Wir wollen zeigen, dass man auch in der Stadt produzieren kann." „LaFlor" formt hier Fair-Trade-Schokolade. Die junge Lebensmittelwissenschaftlerin Meret Casagrande erklärt, dass ein Zehntel ihrer Kakaobohnen per Segelschiff Kolumbien verlassen. Emissionsfrei. So mache man sich Gedanken darüber, welch weiten Weg Rohstoffe zurücklegen. Es gibt drei Kaffeeröstereien im Haus, vier Profiküchen, einen Produzenten veganer Speisen, „Äss-Bar" verkauft Brot „Frisch von gestern", sowie 60 Arbeitsplätze. Ein Schreibtisch kostet pro Monat 460 CHF, das ist für Zürich günstig. Alle sehen sich als Menschen, die sich um die kulinarische Zukunft Gedanken machen, sagt Toufexis, „mit Leidenschaft für Ernährung und Nachhaltigkeit". Sie veranstalten Workshops, einen Kinder-Kochkurs, informieren über Slow Food Youth, wirken mit bei Zürich-Food. Die jungen Unternehmer im Haus profitieren vom Netzwerk, sagt Toufexis, es gibt kurze Wege und informellen Austausch. Also in etwa das, was auch Banker an Zürich schätzen.
Zurück in der Altstadt sieht man nach diesen Touren Zürich neu, erkennt die grünen Baumscheiben, entdeckt Kunst im öffentlichen Raum und hört von Projekten für mehr Radwege, auch in einem stillgelegten Autobahntunnel unterm Bahnhof. Und bestimmt hat niemand etwas dagegen, wenn man an einer Distel oder einem Färberwaid eine Handvoll Samen abstreift, um damit die eigene Heimatstadt zu begrünen.