In den nächsten 50 Jahren könnte sich das Risiko einer speziesübergreifenden Virusübertragung dramatisch erhöhen. Allein im Bereich der Säugetiere könnte es zu 15.000 solcher Fälle kommen. Ist Corona also nur ein Vorgeschmack?
In der Wissenschaft herrscht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass die Corona-Pandemie wahrscheinlich nur der Auftakt für das Auftreten ähnlicher Krankheitsausbrüche in den kommenden Jahrzehnten sein wird. Denn allein schon durch die wachsende Umweltzerstörung und das unaufhaltsame Vordringen des modernen Homo sapiens in bislang noch unberührte Naturgebiete erhöht sich das Risiko eines Kontakts zwischen menschlichen und tierischen Populationen. Die Pufferzone zwischen Zivilisation und Wildnis verschwindet zunehmend. Und auch der Klimawandel, der 2020 zum zweitwärmsten Jahr seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen und zum wärmsten Jahr der nördlichen Hemisphäre gemacht hatte, wird die Verbreitung von Krankheiten in Richtung Epidemien weiter befördern. Aufgrund der Erderwärmung werden sich Tierarten, die für die Menschheit potenziell gesundheitlich gefährlich sind, in Gebieten ansiedeln, die ihnen zuvor nicht zugänglich waren. Dadurch können neue Zoonosen, sprich von Tier zu Mensch übertragbare Infektionskrankheiten, entstehen. Ein Beispiel hierfür sind tropische Mückenarten, die das Dengue- oder das Zika-Virus in sich tragen und heute bereits in europäischen Ländern auffindbar sind.
Dass nach Corona bald die nächste Pandemie anstehen könnte, hatte vor einem Jahr bereits eine Studie der italienischen Akademie Padua allein schon anhand statistischer Wahrscheinlichkeiten vorausgesagt. Demnach soll die Wahrscheinlichkeit des Ausbrechens einer Seuche mit ähnlich verheerenden Folgen wie bei Covid-19 bei jährlich etwa zwei Prozent liegen, in den kommenden Jahrzehnten sei gar mit einer Verdreifachung des jährlichen Risikos zu rechnen.
„Erschüttert unsere Ökosysteme"
Nun hat eine Studie, die im „Nature"-Magazin veröffentlicht wurde, Auswirkungen des Klimawandels für den verstärkten Virusaustausch zwischen Säugetierarten aufgezeigt. Dafür hatten die Wissenschaftler unter Leitung von Prof. Colin J. Carlson, einem auf globalen Wandel sowie auf Fragen zur Dynamik und Vielfalt von Krankheiten in der Tierwelt spezialisierten Biologen und Ökologen, ihre Rechner fünf Jahre lang austüfteln lassen, wie sich die Verteilung von 3.139 Säugetierarten auf der ganzen Welt bis zum Jahr 2070 infolge der Erderwärmung verändern wird – und welche Folgen dies in den kommenden 50 Jahren für den Virenaustausch zwischen diesen Arten haben könnte.
Wobei sie vier verschiedene Klimaprognosen als Szenarien berücksichtigt hatten, von einer Begrenzung der Erderwärmung auf unter zwei Grad Celsius gemäß des Pariser Klimaabkommens bis hin zu einer Erderwärmung von mehr als vier Grad. Auch potenzielle Änderungen der Landnutzung, der Entwaldung und des Wildtierhandels wurden in die Rechner mit eingespeist. „Bei jedem Zwischenergebnis", so Prof. Carlson, „haben wir Überraschungen erlebt." Doch egal welche der vier Varianten durchgespielt wurde, beim Ergebnis zeigten sich immer die enormen Auswirkungen des Klimawandels: „Der Klimawandel erschüttert unsere Ökosysteme im Innersten", so der Co-Autor Dr. Gregory Albery, Krankheitsökologe der Georgetown University. „Diese Arbeit liefert uns einen unbestreitbaren Beweis dafür, dass die kommenden Jahrzehnte nicht nur heißer, sondern auch kränker werden." „Mindestens 10.000 Virusarten sind in der Lage, den Menschen zu infizieren, aber derzeit zirkuliert die überwiegende Mehrheit davon unbemerkt in wildlebenden Säugetieren", so Prof. Carlson. „Die meisten Wildtiere haben nicht viel Gelegenheit, untereinander Viren auszutauschen. Nur sieben Prozent der Säugetierarten teilen einen Lebensraum, und sechs Prozent tragen bisher ein oder mehrere gemeinsame Viren in sich. Aber wenn sich durch Klima- und Landnutzungswandlungen die Verbreitungsgebiete verändern, werden neue Interaktionen möglich – und ein Teil dieser Kontakte wird zur Übertragung von Viren auf zuvor nicht verfügbare Wirte führen und dadurch die zoonotische Ausbreitung erleichtern."
Selbst beim günstigsten Klimamodell mit einer Erwärmung von knapp zwei Grad Celsius kann es laut den Forschern bis 2070 zu rund 300.000 zusätzlichen Erstberührungen zwischen Wildtierarten kommen. Es sei davon auszugehen, dass sich für viele Arten die Lebensräume um hundert Kilometer verschieben und dadurch 4.500 bis 15.000 Erstkontakte zwischen bislang getrennt lebenden Säugetierspezies ermöglicht werden. „Wir sagen voraus", so Prof. Carlson, „dass sich die Arten in neuen Kombinationen in hohen Lagen, in Hotspots der biologischen Vielfalt und in Gebieten mit hoher menschlicher Bevölkerungsdichte in Asien und Afrika zusammenfinden werden, was die neuartige, artenübergreifende Übertragung ihrer Viren schätzungsweise um das 4.000-fache erhöht. Aufgrund ihrer einzigartigen Ausbreitungskapazität sind Fledermäuse für den größten Teil des Austauschs neuer Viren verantwortlich, und es ist wahrscheinlich, dass sie Viren entlang evolutionärer Pfade austauschen, die zukünftiges Auftreten beim Menschen erleichtern. Überraschenderweise stellen wir fest, dass dieser ökologische Wandel bereits im Gange sein könnte und dass eine Erwärmung von weniger als zwei Grad Celsius innerhalb dieses Jahrhunderts den zukünftigen Virenaustausch nicht einschränken wird." Vor allem hoch gelegene Regionen im östlichen Zentralafrika und in Südostasien würden zu neuen Viren-Hotspots werden, da viele Säugetiere ihren Lebensraum nach der Flucht aus für sie zu heiß gewordenen Heimatgebieten dorthin verlegen könnten. „Wir prognostizieren, dass die zusätzlichen Erstkontakte zu mindestens 15.000 Übertragungen von Viren auf eine für diesen Erreger neue Wirtstierart führen werden."
4.500 Artensprünge möglich
Selbst unter der Prämisse, dass sich manche Arten in dem neuen Umfeld nicht so schnell ausbreiten könnten, müsse immer noch von mindestens 4.500 Artensprüngen von Viren in den nächsten Jahrzehnten ausgegangen werden. Ein besonderes und ganz drängendes Problem stelle dabei das Zaire-Ebola-Virus dar, das über seinen bislang beschränkten Verbreitungsraum hinausgelangen könnte. Denn zu den bislang bekannten 13 Wirtstierarten könnten nach Umzug in neue Regionen durch prognostizierte 2.600 bis 3.600 Erstkontakte mit anderen Säugetierarten viele mögliche neue Überträger kommen. Dass ausgerechnet das Amazonasgebiet mit seinen riesigen Regenwäldern nicht zu den künftigen Viren-Hotspots zählen werde, lässt sich laut den Forschern damit erklären, dass dort die Verbreitungsgebiete vieler Arten sehr begrenzt und diese zudem nicht dazu in der Lage seien, sich rechtzeitig durch Auswandern in kühlere Regionen vor dem Aussterben zu retten.
Die zentrale Rolle der Fledermaus, die sie schon bei der Entstehung von Covid-19 gespielt hatte, erklärt sich allein schon daraus, dass diese Tiergruppe mit ihren rund 1.200 Arten weltweit rund 20 Prozent aller klassifizierten Säugetiere ausmacht. Durch ihre teils große Flugreichweite können sie ihr Virenreservoir leicht verbreiten.
Sobald es einem Virus gelungen ist, von einer Wildtierart auf die andere überzuspringen, erhöht sich auch das Risiko für einen Kontakt mit dem Menschen. „Die Virenarten, die erfolgreiche Artsprünge im Tierreich absolvieren können", so Prof. Carlson, „haben auch die höchste Neigung dazu, neue Zoonosen beim Menschen zu verursachen. Die Wildtier-Artsprünge bilden evolutionäre Trittsteine für die rund 10.000 potenziell zoonotischen Viren, die zurzeit in Säugetieren zirkulieren." Laut den Wissenschaftlern ist es höchste Zeit, neben Verbesserungen der Gesundheitsinfrastruktur „Bemühungen zur Überwachung und Entdeckung von Viren mit Erhebungen zur biologischen Vielfalt zu verbinden, um die Verschiebung des Verbreitungsgebiets von Arten zu verfolgen, insbesondere in tropischen Regionen, die die meisten Zoonosen beherbergen und eine rasche Erwärmung erleben."
Tierbewegung und Virenverbreitung
Insgesamt gehen die Forscher davon aus, dass der Klimawandel zum größten Upstream-Risikofaktor für das Auftreten von neuen Krankheiten wie weltweiten Epidemien geworden ist: „Wenn es eine brasilianische Fledermaus bis nach Appalachia schafft, sollten wir uns darauf konzentrieren, zu wissen, welche Viren uns begleiten", so Prof. Carlson. „Der Versuch, die Wirtssprünge in Echtzeit zu erkennen, ist der einzige Weg, wie wir verhindern können, dass dieser Prozess zu weiteren Spillover-Effekten und mehr Pandemien führt." Obwohl die Forscher freimütig auf den größten Schwachpunkt ihrer Studie hinweisen, nämlich die Beschränkung auf Säugetiere – während beispielsweise die Vögel, die bei der Entstehung von Zoonosen ebenfalls eine große Bedeutung haben, außen vor bleiben –, so wurde ihre Untersuchung doch von Wissenschaftskollegen größtenteils hoch gelobt. Die Studie sei „ein entscheidender erster Schritt, um das zukünftige Risiko von Klima- und Landnutzungsänderungen bei der nächsten Pandemie zu verstehen", so die Professorin für Ökologie und Biodiversität Kate Jones vom University College London. Allerdings mahnte Prof. Jones etwas zur Skepsis bezüglich möglicher direkter Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit: „Die Vorhersage des Risikos viraler Sprünge von Säugetieren auf den Menschen ist schwieriger, da diese Übertragungen in einem kom- plexen ökologischen und menschlichen sozioökonomischen Umfeld stattfinden." Die Modellierung sei „technisch einwandfrei", so der Ökologe für globale Veränderungen Dr. Ignacio Morales-Castilla von der spanischen Universität Alcalá, auch wenn er zu bedenken gab, dass Studien wie diese manchmal unrealistische Annahmen beinhalten könnten. Allerdings seien die Breite und der Umfang der Arbeit außergewöhnlich, wobei ihn besonders die Ermittlung der künftigen Viren-Hotspots beeindruckt habe. Auch der Programmdirektor der US National Science Foundation Samuel M. Scheiner unterstrich den hohen Stellenwert der Studie, weil man den Virensprung hin zum Menschen nur dann richtig verstehen könne, wenn man wisse, wie es mit der Virenverbreitung derzeit unter anderen Säugetieren aussehe. „Diese Forschung zeigt", so Scheiner, „wie Tierbewegungen und Interaktionen aufgrund eines sich erwärmenden Klimas die Anzahl der Viren erhöhen können, die zwischen den Arten wechseln."