Das Ökodorf Brodowin feierte letztes Jahr sein 30. Jubiläum. Auf dem von der ersten Stunde Demeter-zertifizierten Partner-Verbunds-Hof für ökologische Landwirtschaft wird artgerechte Tierhaltung über strenge Kriterien vorgelebt.
Der Eingang führt am Hofladen mit den Lavendelbüschen vorbei. Unvermittelt steht man auf dem nach allen Seiten offenen, teilbegrasten Platz. Unter schattigen Bäumen stehen Holzbänke und Tische. Das neue Hofrestaurant wird gerade gebaut, so wie sich hier seit Jahren immer wieder etwas anfügt und erweitert. Der erste Fair-Trade-Kaffee auf die Hand für Hofbesucher dampft ab 9 Uhr. Man nimmt erst mal Platz, lauscht den Rufen der Kühe wie einem Gesang, schweift mit dem Blick vom Strohballen-Spielplatz zum großen tempelartigen Glaskasten. Die Molkerei des „Ökodorf Brodowin" ist der einzige Ort, den man nicht von innen besichtigen kann. Unter strengen hygienischen Auflagen wird hier das frische Gemelk zu Trinkmilch- und Käseprodukten verarbeitet. Nur 19 Prozent der monatlich etwa 466.950 Liter der morgens und abends in die Edelstahltanks gefüllten Milch kommt aus Brodowin selbst. Das Ökodorf ist Rohmilch-Abnehmer von weiteren Partnerhöfen, die alle ein bis zwei Tage mit dem betriebseigenen Tankwagen angefahren werden.
Demeter hat strenge Kriterien
Das 1991 von etwa 60 ehemaligen LPG-Landwirten gegründete öko-landwirtschaftliche Verbund-Projekt mit seinen drei Säulen „Landwirtschaft", „Verarbeitung" und „Vertrieb" ist heute mit einer Gesamtfläche von 2.400 Hektar der größte Demeter-Betrieb Deutschlands. Von den aktuell 2.400 Hektar Bewirtschaftungsflächen sind 35 Prozent Eigentum, der Rest verteilt sich auf 400 Verpächter und ist Arbeitsplatz von etwa 200 Menschen. Deren Wohl-versorgtsein steht in der Philosophie des Demeter-Initiators und Anthroposophen Rudolf Steiner neben dem Wohl der Tiere natürlich ebenso im Zentrum. Ein wichtiges Glied der biodynamischen Kreislaufwirtschaft sind die Rinder auf dem Hof. Die Gründer des Ökodorfs Bodowin haben sich sofort für Demeter mit seinen strengen Kriterien entschieden, ohne den oft üblichen Zwischenschritt über die europäischen Bio-Standards zu gehen. Heute kooperiert das Ökodorf mit fünf weiteren Demeter-zertifizierten Höfen. Am Runden Tisch kommen alle relevanten Netzwerk-Partner regelmäßig zusammen, um sich, wie für die Bio-Branche üblich, in einem fairen und offenen Diskurs auszutauschen. „Wir sind dabei Partner und Kunde zugleich; verstehen uns als tragende Transferstelle, Abnehmer und Weiterverteiler. Nur in Netzwerken können große wie kleine Projekte im ländlichen Raum überhaupt erst nachhaltig realisiert werden. So sind bei uns auch Terra oder das Märkische Landbrot seit Jahren zuverlässige Abnehmer aller landwirtschaftlichen Produkte", erzählt Franziska Rutscher, die seit acht Jahren bei Brodowin verantwortlich für Öffentlichkeitsarbeit und Hygienemanagement ist.
Transparenz sei hier auch der Kern-Wert, fügt die studierte Ernährungswissenschaftlerin hinzu. „Wir möchten Hof-Besuchern das Konzept nahbar machen. Nach Brodowin pilgern nicht nur tierwohlinteressierte Individualisten oder Familien aus der etwa 70 Kilometer nordöstlich gelegenen deutschen Hauptstadt und dem Brandenburger Umland. Auch Delegationen aus der ganzen Welt, die sich ein Projekt dieser Größe ansehen wollen, holen sich fachliche Impulse. Außerdem begleitet die Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde das Ökodorf auf wissenschaftlicher Ebene. Regionale Strahlkraft hat auch das nahegelegene Biosphärenreservat Schorfheide Chorin.
Tierwohl steht hier unumstößlich im Mittelpunkt. Die Brodowiner halten drei verschiedene sogenannte Nutztier-Arten. Neben rund 180 Milchkühen und einem Bestand von insgesamt 400 Rindern, leben hier seit 2009 auch über 200 Milchziegen sowie seit 2014 Legehennen und die gleiche Anzahl Bruderhähne. Bis 2006 gab es auch Schweine. Aufgrund dieses Dürre-Jahres entschied man sich damals zum Verkauf für Futtermittel, um die Kühe durchzubekommen.
Hier dürfen Kühe älter werden
Rings um den Hauptplatz befinden sich die Kuhställe, Heu-, Mist- und Futteraufbereitungsbereiche sowie weitläufige Weiden. Eine der am stärksten kontrollierten Auflagen im Demeter-Kreislauf ist das Futter, das zu bestenfalls 100 Prozent vom eigenen Hof kommen muss. Der Zukauf ist nur über eine Ausnahmegenehmigung möglich. Das Futter besteht aus Weidegras, Heu, Getreide und Gärfutter. Die sogenannte Silage (Silofutter) ist ein durch Milchsäuregärung konserviertes und fermentiertes Futtermittel. „Das machen wir hier aus Mais mit der kompletten, gehäckselten Pflanze inklusive der Körner. Die zweite, feinere Silage besteht aus Kleegras mit Blüten. Protein kommt nur im Notfall über Bio-Soja von außen. Wir bauen vor allem selbst Lupine an. Nur bei Missernten sind wir gezwungen, Futtermischwaren zuzukaufen und Demeter lockert die Bestimmungen. Wichtig sind auch die Futter-Mist-Austausch-Kooperationen mit den Partnern. Kühe essen gern auch mal Gemüse-Snacks aus Pastinaken oder Möhren. Unser Getreide verkaufen wir auch an Bäckereien, Gerste ist eine reine Futterpflanze." Kurz: Getreide-Halme sind für Menschen ungenießbar, werden zu Stroh, aus dem die Kuh für den Menschen wertvolles Protein macht. Konventionell stehen Tiere auf „Spaltenböden", die Kot und Urin trennen. „Unser Vieh steht in Freilaufställen auf Stroh, welches später als Mist sechs Monate kompostiert. So kommen die Nährstoffe, die der Boden in die Pflanzen gesteckt hat, über den Mist, den die Kühe produzieren, wieder an die Erde zurück." Was hier unangenehm riecht, ist nie Gülle, sondern eben Mist und auch mal vergorene Silage, die eigentlich wie Sauerkraut riecht. Sie muss anaerob – ohne Sauerstoff – arbeiten, gut abgedeckt und stark zusammengepresst sein, sonst führt sie zu Koliken.
In Brodowin genießen Kühe ein acht- bis zwölfjähriges Leben. Sie könnten sogar 20 Jahre alt werden – im Massentierbetrieb werden sie gerade einmal fünf. Mehrmals wöchentlich werden Kälbchen geboren, die maximal die ersten sieben Lebenstage Mutternähe genießen, um die wichtige Biest- oder auch Kolostralmilch aufzunehmen. Durch die Erstmilch entwickelt das Kalb wichtige Antikörper und letztlich ein eigenes Immunsystem. In seinen ersten Tagen sind die Abwehrkräfte noch nicht voll ausgebildet. Tröpfcheninfektionen (Nasenkontakt) können Krankheiten auslösen.
„Wir haben uns viel mit der muttergebundenen Kälberaufzucht klein strukturierter Höfe beschäftigt. Wir sind zu groß dafür, und das tägliche Zusammenkommen und wieder Getrenntwerden bedeutet mehr Stress für Kalb und Mutter. Wir bevorzugen die schrittweise Sozialisierung", ergänzt Franziska Rutscher und zeigt dabei auf kleine und mittelgroße, offene Kunststoff-Kästen. Die „Kälberiglus" seien eine Art „Kindergarten". Jedes Kalb bezieht bis zur zweiten Woche sein eigenes, akribisch gereinigtes Iglu mit viel frischer Luft und Stroh. Jeder Standort wird höchstens zweimal jährlich besetzt. Auch Sonne und Regen sorgen für eine natürliche Desinfektion. „Es muss ihm physisch gut gehen, wie einem Kind, das schläft, satt ist und dem nichts weh tut." Kälbern geht es draußen nachweislich besser als im Stall. Bis zur dritten Woche bleiben sie im Einzeliglu, danach ziehen sie maximal zu viert ins „Gruppen-Häuschen" und sozialisieren sich als „WG" schnell zu „ausgeglichenen, vitalen, menschen- und herdenfreundlichen Jungtieren". An ihrem 100. Lebenstag ziehen sie in den Herdenverband. Sie behalten ihre Hörner – eine der strengen Demeter-Auflagen und ein für die Rangordnung unverzichtbares Körperteil. In der Herde bekommen sie erstmalig ausschließlich „Raufutter", als Grundfutter für die Ausbildung des Pansens. Die Fütterung von Milch wird eingestellt. Die Aufteilung in die fünf Ställe – aus alter Baumasse aus DDR-LPG-Zeiten – geschieht nach Eigenschaften wie erster Laktation, Gesundheitszustand, Leistung oder Zuchttauglichkeit. Erst nach Erstbefruchtung durch den Bullen und später künstlich, können die Kühe bald gemolken werden. Ihren Euter entwickelt eine Kuh erst nach dem ersten Kalb. Dann erst ist sie Milchkuh. Am komfortabelsten ist der Freilaufstall, in dem noch die Spuren der früheren Anbindehaltung zu sehen sind. Früher wurde der Kuhkopf durch eine Art Bügelsystem fixiert. Das Tier wurde hinten gemolken, während es vorne fraß. Bequemes Liegen war nicht möglich. Heute können sich die Glücklichen frei bewegen und autark aus dem mit duftendem Stroh ausgelegten Stall zur Weide spazieren. Durch Licht-Kanäle und ein offenes Dach darf es hineinregnen oder die Sonne hineinscheinen. Ein bisschen Well- und Fitness darf auch sein: Besonders beliebt sind die Massagebürsten, die die clevere Kuh selbst über eine spezielle Mechanik in Bewegung setzt.
Eine Art Fitness-tracker zeigt die Gesundheit der Kuh
Ein Pedometer am Fuß – eine Art Fitness-Tracker misst die täglichen Schritte der Kuh und zeigt, ob sie gesund ist. Medizinisch versorgt wird sie vor allem homöopathisch. Der Tierarzt hat einen speziellen Bereich. Kein Wunder, dass die schwarz-bunten Holsteinerinnen pro Melkvorgang täglich zwischen 22 und 28 Liter beste Rohmilch und an die 7.500 Liter Milch im Jahr abgeben.
Gleich nebenan liegen auch die Muttertiere mit ihren Neugeborenen. Die Hälfte sind Bullenkälber. Ähnlich wie männliche Küken sind sie für einen Milch-Viehbetrieb nicht rentabel, zumal Milchvieh im Vergleich zu Masttier-Rassen kaum Fleisch ansetzt. Das sofortige Töten von Rindern bis zur 14. Woche ist in Deutschland verboten. Viele Bio-Bauern müssen ihre Tiere dann doch an konventionelle Mastbetriebe geben. Eine emotional untragbare Situation. „Auch wir mussten lang unsere Bullenkälber für 30 Euro verkaufen, nachdem wir bereits 150 Euro in Futter investiert hatten. Ein finanzielles wie ethisches Problem, für das es keinerlei Förderung gibt. Ein Lichtblick ist das Pilotprojekt ‚Rettet Lars‘, das wir mit dem Einzelhandel-Partner Edeka Brehm entwickelt haben." Die inhabergeführten Filialen finanzieren die Aufzucht.
Nach etwa acht Monaten artgerechter Haltung werden die männlichen Tiere zur Schlachtung an den nahe gelegenen Haus- und Hofschlachter Gut Kerkow gegeben. Im Rahmen einer Verkaufsaktion werden die Fleischprodukte dann exklusiv in den Filialen angeboten – ohne jeglichen Profit seitens Brodowin. Im nahe gelegenen Dorf Serwest bietet sich ein glückseliges Bilderbuchszenario. Um die 2.000 Legehennen der Lohmann Brown-Rasse leben hier artgerecht in den über wilde Blumenwiesen und hohe Grasflächen verteilten mobilen Hühnerställen mit schützendem Unterstand. Sie werden mit dem Traktor umgezogen, sobald der Boden zu strapaziert ist. Ausreichend frisches Grün ist damit im Auslaufbereich jederzeit gewährleistet. Jedes Huhn beansprucht sechs Quadratmeter Fläche, auf der es nach Lust und Laune scharren kann, ohne die Grasnarbe zu zerstören. Es pickt hofeigenes Futter und legt im Schnitt jeden zweiten Tag ein Ei.
Obwohl es die mobile Haltungsform seit zwölf Jahren gibt, und sich seit etwa fünf Jahren durchgesetzt hat, gibt es keinerlei staatliche Förderung. Auch nicht für die Bruderhähne, die Brodowin von Anfang an mitaufzieht. Die aus wirtschaftlicher Sicht wertlosen männlichen Küken werden bis zu 22 Wochen alt und können jeden Tag mit den Schwestern im Freien verbringen. „Auf jede Henne kommt bei uns ein Bruderhahn, und der wurde ja nicht in diese Welt als Müll geboren. Wir schenken ihm ein Leben und eine Wertschätzung", erzählt Rutscher sichtlich bewegt. „Da die Züchtung von Legehennen vor allem eine hohe Legeleistung zum Ziel hat, setzen weder Hahn noch Huhn nennenswerte Mengen Muskelmasse an. Wir verwerten trotzdem alles, rupfen, kochen und produzieren davon Curry, Brühe oder Frikassee. Eine gute Lösung, die hoffentlich noch viele Nachahmer findet. Leider lassen sich die Kosten über erhöhte Eierpreise nicht decken." Brodowin kaufe die Bruderhähne auch von Partnerhöfen und komme so seiner Verantwortung nach.
„Weiße Deutsche Edelziege", „Toggenburger" und „Saanenziegen" nennen sich die 220 Milchziegen, die seit 2009 die leer stehenden Schweineställe im nahen Ortsteil Weißensee wie ein komfortables, großes Wohnzimmer bewohnen. Von Frühjahr bis Herbst traben die pfiffigen Schönheiten frei wählbar zwischen ihren grün bewachsenen Weideflächen und ihrem großräumigen Stall-Zuhause. Zweimal am Tag werden sie gemolken. Ein gutes Milchtier gibt pro Jahr etwa 700 bis 750 Liter Milch. Ziegenmilch ist allerdings ein saisonales Produkt: Von Februar bis Ostern werden rund 300 Zicklein in den Bilderbuch-Stallungen geboren und aufgezogen. Aus ihrer Milch werden Trinkmilch, Frisch- und Schnittkäse hergestellt.
Wer als Tier in Brodowin geboren wurde, hat wohl ein gutes Karma. Hier setzt man ein Zeichen für Tierwohl in seiner ethisch allerhöchsten Form. Wirtschaftliche Kreisläufe schließen sich nahtlos an den Kreislauf des Natürlichen.