Die Hoffnung auf einen Waffenstillstand dürfte sich als Illusion erweisen
Soll der Westen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin reden? Wäre der Kremlchef mit dem Angebot eines Waffenstillstands zu besänftigen? Angesichts der Brutalität des russischen Angriffskrieges in der Ukraine mehren sich in Deutschland die Stimmen für eine Feuerpause. Wohl auch in der Hoffnung, dass mit einer Deeskalation eine schwere Gasversorgungskrise hierzulande vermieden werden könnte.
„Ich gehe weiterhin davon aus, dass dieser Krieg nicht auf dem Schlachtfeld durch einen absoluten Sieg entschieden wird, sondern am Ende nur durch Gespräche, durch Verhandlungen, durch Verabredungen", betont der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Wenn Russland bereit wäre, humanitäre Korridore zu öffnen, sei auch eine Lockerung der Sanktionen denkbar.
Der militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Erich Vad, sieht ein kleines Zeitfenster für einen Verhandlungskompromiss. Nach der Eroberung der ostukrainischen Region Donezk durch die Russen werde es eine „operative Pause" geben, prognostiziert der ehemalige Brigadegeneral der Bundeswehr. In dieser Phase könnte der Konflikt beigelegt werden, wenn Kiew den Gebieten Luhansk und Donezk im Donbass „weitestgehende Autonomie" gewähren und die Krim-Frage auf die Zukunft vertagen würde, so Vad.
Auf den ersten Blick scheinen die Chancen auf ein derartiges Szenario nicht schlecht zu sein. Putin räumte immerhin ein, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland Wirkung zeigten. „Während wir die kolossale Menge an Schwierigkeiten anerkennen, die vor uns stehen, werden wir intensiv und kompetent nach neuen Lösungen suchen", erklärte er. Insbesondere die gekappten Importe von Computer-Chips oder Ersatzteilen für Autos und Flugzeuge machen der russischen Wirtschaft zu schaffen. Die Konjunktur könnte in diesem Jahr um sieben bis zehn Prozent einbrechen, schätzen westliche Institute.
Auf den zweiten Blick gibt es jedoch wenig Grund für Optimismus. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu befahl bei einem Besuch der eigenen Truppen eine „Ausweitung der Aktivitäten der Heeresgruppen in alle Angriffsrichtungen". Die Armee solle gezielt ukrainische Raketen und Artillerie ins Visier nehmen, so Schoigu.
Entscheidend aber: Putin hat seine Strategie nicht aufgegeben. Er will die Ukraine „entwaffnen" und „entnazifizieren". Letzteres ist ein Codewort für die Einsetzung eines moskaufreundlichen Satellitenregimes in Kiew. „Das politische Ziel Russlands, die Ukraine als Ganzes zu vernichten und sich einzuverleiben, steht nach wir vor", sagt der Osteuropa-Experte Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations.
Putin hat seine imperialen Ambitionen mehrfach formuliert. Im Juli 2021 veröffentlichte er einen Essay „über eine historische Einheit von Russen und Ukrainern". Eine der Kernbotschaften: Die drei ostslawischen Bevölkerungsgruppen – Russen, Ukrainer, Belarussen – seien „ein Volk". Dieses Volk sei nach dem Zerfall der Sowjetunion getrennt worden. Heute werde die Ukraine vom Westen gesteuert, um Russland zu schwächen. Putin will eine demokratische und wirtschaftlich florierende Ukraine unter allen Umständen verhindern. Sie wäre ein westliches Gegenmodell zu Russland, das auch bei den eigenen Bürgern Strahlkraft erlangen könnte. Dies würde Alarmstufe Rot für Putins Macht bedeuten.
Weiteres Indiz für die Unbeugsamkeit des russischen Präsidenten: Im Juni verglich er sich mit Zar Peter dem Großen. Peter I. habe im Großen Nordischen Krieg Anfang des 18. Jahrhunderts das Gebiet um die heutige Stadt St. Petersburg nicht von Schweden erobert, sondern zurückgewonnen. „Offenbar ist es auch unser Los: zurückzuholen und zu stärken", unterstrich er mit offensichtlich beabsichtigter Parallele zum Ukraine-Krieg.
Der Traum von einem Waffenstillstand als Auftakt für eine Beendigung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine dürfte sich als Illusion erweisen. Sollte Putin eines Tages tatsächlich Bereitschaft zu einer Feuerpause zeigen, ist ein Stopp der Kämpfe dennoch unwahrscheinlich. „Es wäre ein taktischer Zug, um Zeit für die Regeneration der russischen Truppen zu bekommen", bilanziert Carlo Masala von der Hochschule der Bundeswehr in München. Der Krieg würde nach einer Atempause weitergehen.