Wer mehr weiß, sieht mehr. Der Band „Der Bliesgau – Natur, Menschen, Geschichte" stellt die einzigartige Kulturlandschaft im Südosten des Saarlandes vor. Herausgeber und Mitautor ist der Kulturreferent des Saar-Pfalz-Kreises Dr. Andreas Stinsky.
Herr Dr. Stinsky, worin besteht der Unterschied zwischen Kulturlandschaft und Naturlandschaft?
Eine Naturlandschaft wäre vom Menschen in keiner Weise beeinflusst. Ich bezweifle, dass wir überhaupt noch so eine Landschaft haben, in Europa schon gar nicht und ansonsten vielleicht mancherorts in Ostafrika noch. Eine Kulturlandschaft wurde vom Menschen kultiviert. Aus dem Latein cultura: „Bearbeitung, Pflege, Ackerbau" – Kultur, vom Menschen Gestaltetes. Das Erscheinungsbild einer Kulturlandschaft, an den vorhandenen Ressourcen orientiert, ist maßgeblich auf die menschliche Nutzung zurückzuführen. Die Jäger- und Sammlergesellschaft setzte in der Steinzeit den Anfang einer kulturlandschaftlichen Prägung. Mit Ackerbau und Viehzucht greift der Mensch ganz massiv in das Erscheinungsbild der Landschaft ein. Selbst die Wälder sind größtenteils ein Wirtschaftsraum, das vergisst man oft, wenn man durch sie geht …
Selbst das Orchideengebiet bei Gersheim! Erst vor Ort habe ich gelernt, dass es sich nicht um eine Naturlandschaft handelt, sondern um eine Kulturlandschaft.
Ja, die Orchideen benötigen sonnige, trockene Lagen. Diese freien Hänge, die weder bewaldet noch verbuscht sind, entstanden durch die Nutzung des Menschen in den letzten Jahrtausenden. Was dort wäre, wenn der Mensch nie eingegriffen hätte, können wir gar nicht sagen, das wäre rein hypothetisch.
Was ist charakteristisch an der Kulturlandschaft Bliesgau?
Die Unesco hat den Bliesgau völlig zu Recht 2009 unter Schutz gestellt, weil diese Kulturlandschaft sehr urtümlich geprägt ist, und zwar vor allem aus zwei Gründen. Der Bliesgau hat nie eine Industrialisierung erfahren. Abgesehen von Kalk besitzt der Bliesgau keine Rohstoffe, die industriell äußerst begehrt waren. Im 19. Jahrhundert sind an einzelnen Stellen Kalkwerke entstanden, zwar stellen die Kalksteinbrüche auf den Höhenrücken größere Eingriffe dar, aber dennoch, geschichtlich gesehen sind sie marginal. Und der zweite Grund ist: Man könnte sagen, der Bliesgau ist eine sehr klein gekammerte Landschaft – ein Nutzungsmosaik. Im Bliesgau lassen sich zusammenhängende Flächen maximal in der Größe einiger Fußballfelder landwirtschaftlich nutzen. Diese Faktoren spielten, romantisierend ausgedrückt, dem Bliesgau in die Karten, denn: Wir können eine Landschaft mit erhalten gebliebener Artenvielfalt durchwandern, die noch so aussieht wie vor Jahrhunderten. Das ist ein kultureller Schatz, den wir viel mehr als Kulturerbe wahrnehmen sollten. Wir müssen daran denken, dass diese Landschaft gepflegt werden muss. Ich empfehle jedem, an einem Spätsommertag durch den Bliesgau zu wandern – es ist eine wunderschöne Landschaft.
Woher hat man Kenntnis über das Aussehen dieser Landschaft?
Die Landschaft, wie wir sie heute sehen, hat ihre Wurzeln vermutlich schon in der Bronzezeit. Seit der Römerzeit dürfte der Bliesgau bereits ähnlich ausgesehen haben wie heute. Seit dem 16. Jahrhundert können wir das Erscheinungsbild sogar belegen, weil wir detaillierte Kartenwerke besitzen.
Wann wurde der Bliesgau urkundlich erstmals erwähnt?
Der Begriff pagus Blesinse kommt im späten 8. Jahrhundert erstmals auf. Pagus ist die lateinische Bezeichnung für Gau und beschreibt eine Landschaft. Blesinse ist der Gau an der Blies. Es folgt etwas später die altdeutsche Namensform Blisgowe.
Sie haben es angesprochen: Der Bliesgau wurde zum Unesco-Biosphärenreservat erklärt. Was muss denn da geschützt werden?
Mehreres, das Unesco-Biosphärenreservat hat viele Aufgaben. Dass diese Landschaft so aussieht, ist ja kein Selbstläufer. Durch den Strukturwandel, der schon seit den 50er-, 60er-Jahren voranschreitet, ist das Bauerntum im Nebenerwerb vollständig verloren gegangen. Erhalten werden soll die Kulturlandschaft in ihrer Prägung. Die heute nicht mehr regelmäßig gemähten Flächen werden zu sogenannten Pflegezonen. Die Artenvielfalt bleibt durch die Einrichtung von Kernzonen weiter geschützt. Die dritte Kernkompetenz des Unesco-Biosphärenreservats ist, modellartig das Miteinander „aus der Region für die Region" nachhaltig zu stärken. Die Landschaft wird gepflegt und der Mensch gewinnt neue Einkommensmöglichkeiten, beispielsweise auch durch die Entwicklung der Potenziale im sanften Tourismus.
Und vielleicht sogar durch Weinbau? Könnte das ein Zukunftsprojekt werden?
Dafür bin ich zwar kein Fachmann, aber was ich sagen kann, ist: Der Bliesgau war lange Zeit eine traditionelle Weinbaugegend. Ich habe gehört, dass es in Mecklenburg-Vorpommern Pilotprojekte gibt, um zu sehen, ob man Weinbau betreiben kann. Ich halte es für recht wahrscheinlich, dass es im Bliesgau dafür die Möglichkeit geben könnte. Generell müssen alle ländlichen Gegenden die klimatischen Veränderungen berücksichtigen.
Welches Dorf im Bliesgau sollte man als Heimat- aber auch touristisch Interessierter kennen bzw. kennenlernen?
Klare Antwort: Wolfersheim! Am südlichen Ende des Territoriums der Stadt Blieskastel gelegen ist Wolfersheim einer der wenigen Orte, der seine Prägung als Bauerndorf vollständig erhalten hat. Der architektonische Werdegang des Dorfes lässt sich ganz toll nachvollziehen: Ein Kirchturm aus der Gotik, das älteste Haus aus dem 17. Jahrhundert und an den Türstürzen lässt sich ablesen, wie das Dorf gewachsen ist. Man hat darauf Wert gelegt, dass Hausbäume erhalten oder wieder gepflanzt werden, weil man erkannt hat, dass sie ortstypisch sind. Wolfersheim hat es – von der Straßengestaltung angefangen bis zum Bewusstsein, die Bauernhausfassaden zu erhalten – zu einem Dorf geschafft, das ich ganz toll finde.
Sie haben Blieskastel genannt. Das ist die einzige Stadt im Bliesgau.
Genau. Die Stadt St. Ingbert ist Teil des Biosphärenreservats, das über die Grenzen des Bliesgaus hinausgreift, um Wechselbeziehungen aufzuzeigen, aber in der Kulturlandschaft Bliesgau ist Blieskastel die einzige Stadt. Blieskastel verdankt seine Entstehung als Barockresidenz einem Kuriosum. Das bedeutende Adelsgeschlecht der von der Leyen verlegte – aus unbekannten Gründen – die Hauptresidenz von Koblenz 1773 nach Blieskastel an die Blies. Was heute das Image von Blieskastel prägt, entstand innerhalb von 20 Jahren durch die Reichsgrafen, die mit einem enormen Vermögen diese Residenzstadt förderten und ausbauten.
Blieskastel verfügt über ein im Wortsinn herausragendes Wahrzeichen …
… den Gollenstein! Einer der größten Menhire, eine aus einem Gesteinsblock aufgestellte Stele. Wir können ihn weder einer genauen Nutzung nach noch zeitlich genau einordnen – vor etwa 4.300 bis 4.000 Jahren wurde er aufgestellt.
Die Stephanuskirche in Böckweiler wurde bei einem bundesweiten Wettbewerb zur „Kirche des Jahres 2020" gewählt. Dieses Kirchlein ist etwas Besonderes.
Absolut! Das ist die älteste Kirche im Saarland, es gab ältere, aber es ist die älteste, die noch steht. Es ist der zweitälteste Sakralbau, weil der Alte Turm in Mettlach noch älter ist, allerdings ist das eine Grabkapelle, keine Kirche. Die drei Konchen (Einbuchtungen oder Nischen, Anm. d. Red.) sind zudem eine seltene Architektur.
Welche archäologischen Funde, neben dem keltischen Fürstinnengrab in Reinheim, zählen zu den herausragenden des Europäischen Kulturparks Bliesbruck-Reinheim?
Einen Steinwurf vom Fürstinnengrab entfernt liegt eine römische Villa, die zu den größten nördlich der Alpen zählt. Dieses palastartige Landgut nahm eine Fläche von über sieben Hektar, zehn Fußballfelder groß, ein – eine Villa der Superlative! Auf der französischen Seite finden wir eine Straßensiedlung kleinstädtischen Charakters, mit der Besonderheit, dass die Ortschaft unüberbaut blieb, daher sehen wir eine öffentliche Thermenanlage nach dem Vorbild von Trier, wenn auch nur ganz klein. Am Rande des Parks, für den Besucher nicht sichtbar, wurde ein Grab aus dem Frühmittelalter ausgegraben. Ein Mann ist unter einem großen Grabhügel, ähnlich wie das Fürstinnengrab, mit vier Hunden und zwei Pferden beigesetzt worden – ganz herausragend. Wir haben den Fund in einer Sonderausstellung 2013 gezeigt.
Gehen Sie als Archäologe davon aus, dass noch weitere römische Preziosen im Bliesgau unentdeckt schlummern?
Natürlich. Allein im Bliesgau kennen wir rund 400 Fundplätze aus römischer Zeit.
Sie kennen die Fundplätze, haben aber kein Geld, um zu graben …
Das ist überall so, das wirft kein schlechtes Licht auf die Kulturlandschaft im Saarland. Wir kennen Tausende Fundplätze auf das gesamte Saarland bezogen, und wo es keine Notwendigkeit zu graben gibt, werden die Befunde so für nachkommende Generationen bewahrt.