Mehr Klientel bei den Tafeln, mehr Schuldnerberatungen, starke Unsicherheiten: Soziale Verbände wie die Caritas stehen angesichts der anhaltenden Krisen vor enormen Herausforderungen. Michael Groß, Direktor der Caritas Saarbrücken, sieht ein weiteres Problem: fehlende Fachkräfte.
Herr Groß, wir erleben im Augenblick mehrere sich überlagernde Krisen: nach Corona nun der Krieg und die daraus erwachsende Inflation, eine Energiekrise. Wie wirkt sich diese Gemengelage auf das Klientel der Caritas aus?
Wir stellen fest, dass die Nachfrage nach Beratungsleistungen enorm gestiegen ist. Ob das nun in unserer allgemeinen Sozialberatung oder in der Schuldner-Insolvenzberatung stattfindet oder in unseren Gemeinwesenstandorten: Überall nehmen wir wahr, dass es mehr Bedarf nach Unterstützung gibt. Aber wir kommen gerade erst aus einer Krise heraus, leiden noch immer unter den Folgen der anhaltenden Corona-Pandemie. Wir starten also geschwächt bereits in die nächste Krise. Das hat natürlich Folgen und führt zu Problemspiralen, die nicht mehr so einfach aufzuhalten sind. Wir haben in Pandemiezeiten das Aussetzen der Privatinsolvenz erlebt, also das Herauszögern von Anträgen. Diese sind auch noch nicht von den Behörden abgearbeitet. Hier drohen möglicherweise weitere soziale Einbrüche in den Familien. Nun die nächste Krise in einer angespannten Situation, die durch die Inflation und die Steigerungen der Energiepreise doppelt schlimm ist.
Konkret hat das Umweltministerium im Saarland kürzlich den Tafeln 30 Tonnen Obst und Gemüse überlassen. Wie ist die Situation der Tafeln unter Caritas-Trägerschaft? Erhalten die Tafeln noch genügend Mittel, um Bedürftige zu versorgen?
Der Caritasverband für Saarbrücken und Umgebung ist selbst kein Träger einer Tafel, aber von Nachbar-Ortscaritasverbänden wie Schaumberg-Blies oder Saar-Hochwald wissen wir, dass die Nachfrage dort extrem gestiegen ist. Das hängt mit der Steigerung der Lebensmittelpreise zusammen und führt dazu, dass immer mehr Menschen die Tafeln aufsuchen müssen. Gleichzeitig ist, ebenfalls aufgrund der Preise, die Bereitschaft gesunken, Lebensmittel abzugeben oder zu spenden. Dies führt zu dem aktuellen Dilemma der Tafeln. Klar ist, grundsätzlich ist unser Credo weiterhin, dass es die Tafeln in einem Land wie Deutschland eigentlich nicht geben müsste. Aber wenn wir sie unterstützen, dann wollen wir das nicht nur in der Auswahl von Lebensmitteln, sondern auch in der Beratung, also mit einem Angebot der „Tafel plus". Wir wollen den Menschen dauerhaft helfen, von den Tafeln unabhängig zu sein.
Die stark steigenden Energiepreise stellen vor allem ärmere Haushalte vor riesige Probleme. Was erleben Sie derzeit in den Beratungsstellen?
Wir müssen sehen, dass sich schon zu Beginn des Jahres der Gaspreis im Vergleich zum Preis 2021 verdoppelt hat – ohne den Ukraine-Krieg. Seit dem Krieg steigen die Gaspreise deutlich weiter an. Das wird sich in den Abschlagszahlungen niederschlagen, was wiederum unsere Klienten stark verunsichert. Es ist nicht abzusehen, was auf sie finanziell zukommt, und das schürt Ängste. Für Menschen, die in Grundsicherung, SGB II und XII leben, ist es so, dass Heizung in den Kosten der Unterkunft mitinbegriffen ist. Strom aber müssen sie selbst zahlen (Gas- und Strompreise sind aneinandergekoppelt, Anm. d. Red.). Das hat natürlich zur Folge, dass diese Menschen von dem wenigen, was sie pro Monat zur Verfügung haben, nun noch weniger haben, weil sie Geld für die Stromrechnung zurücklegen müssen. Das kombiniert mit steigenden Lebensmittelpreisen führt zu einem massiven Druck und zur Frage, wie diese Menschen ihren Alltag finanziell noch bewältigen können. Da reden wir nicht von außergewöhnlichen Anschaffungen, sondern vom grundlegenden Alltag: essen, trinken, wohnen. Besonders betroffen sind Familien mit geringem Einkommen, die arbeiten gehen, die sich aber mit Unterstützung von Kinder- und Wohngeld gerade so über Wasser halten können, sodass sie nicht in eine andere sozialstaatliche Leistung hineinrutschen. Höhere Preise bedeuten, dass sie Gefahr laufen, nun doch diese staatlichen Sozialleistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Dies nagt dann am Selbstwertgefühl dieser Menschen, die diese dann brauchen, obwohl sie arbeiten.
Vonseiten der Bundesregierung gab es zahlreiche Geldleistungen zur Abfederung der Krisen: vom höheren Grundfreibetrag über Energiepreispauschale und Kinderbonus bis hin zu Einmalzahlungen an Hartz-IV-Empfänger. Reichen diese Zahlungen also nicht aus?
Es war ein Tropfen auf den heißen Stein. Für den Staat ist es sicherlich eine erste Maßnahme, mit der er versucht, die größte Not zu lindern. Sicherlich ist es ein richtiger Weg, Einmalzahlungen zu leisten. Denn die Änderung von Regelsätzen bedarf gesetzlicher Grundlagen, und das ist meist ein längerer Weg. Allerdings wäre ein gezielterer Einsatz dieser Hilfen sinnvoller. Denn Einmalzahlungen, von denen auch mittlere und hohe Einkommen gleichermaßen profitieren, könnte man durchaus hinterfragen. Die Bedarfe sind woanders, nämlich bei den niedrigen Einkommen. Alle Maßnahmen, die die Einkommenssteuer betreffen, kommen bei Rentnern nicht an. Und die sind, wie wir im Saarland seit dem neuen Armutsbericht wissen, besonders armutsgefährdet. Wichtig wäre nun eine dauerhafte Sicherung der Regelsätze, der Grundsicherung, in einer Höhe, die mindestens die Inflationsrate ausgleicht. Die Regelsätze waren ja schon vor den Krisen so knapp bemessen, dass es hinten und vorne kaum gereicht hat. Das muss also grundsätzlich und dauerhaft verändert werden. Geld dafür ist vorhanden, das haben wir in den vergangenen beiden Jahren und nach der „Zeitenwende"-Rede von Kanzler Scholz gesehen.
Sollte das 9-Euro-Ticket in dieser Form weiter verkauft werden?
Ich kann mir vorstellen, dass das Ticket eine Entlastung war, eine praktische Unterstützung. Aber es wurde verpasst, den ÖPNV so aufzustellen, dass dieser auf die Mehrbenutzung eingestellt war. Das schaffe ich nicht, indem ich personelle Belastung oder Verspätungen in Kauf nehme. Das System muss dazu in der Lage sein, eine finanzielle Entlastung für die eine Seite auch auf der anderen Seite auszuhalten. Wir müssen natürlich auch weiter die Frage stellen, ob solch ein Ticket einkommensunabhängig sein soll. Diese Maßnahmen müssen zielgerichteter sein.
Hilfsgelder: Ein Tropfen auf den heißen Stein
Arbeitsminister Hubertus Heil hat nun seinen Vorschlag für ein Bürgergeld vorgelegt. Die Höhe sollte „angemessen" sein, sagt er. Was bedeutet „angemessen" für Sie?
Eine schwierige Frage, sicherlich. Ich kann Ihnen keine Höhe nennen. Angemessen heißt, dass Menschen mit diesem Geld leben können. Leben heißt, selbstbestimmt einkaufen gehen zu können, seine Lebensmittel aussuchen zu können, die Kinder mit notwendigen Schulutensilien ausstatten können, sich eine gute und sichere Wohnung leisten zu können. Das sind für mich angemessene Lebensumstände, wenn wir in Zukunft eine würdige Gesellschaft haben wollen mit Menschen, die im Staat ihren Beitrag zum Gemeinwohl einbringen wollen. Dazu muss das Bürgergeld befähigen. Menschen dürfen nicht finanziell abgehängt werden.
Saar-Sozialminister Magnus Jung möchte die projektbezogene Quartiersarbeit in Saarbrücken mit Bürgerbeteiligung verstärken. Projektbezogen deshalb, weil es seitens der EU eben nur projektbezogene Geldleistungen gibt, die vom Land mitfinanziert werden. Ist das ein guter Weg für die Zukunft oder bedarf es da nicht einer Gesamt-Strategie für die Stadt?
Wir betreuen sechs Gemeinwesen-Projekte in Saarbrücken und im Regionalverband, arbeiten also schon seit Jahrzehnten in der quartiersbezogenen Arbeit. Grundsätzlich werden wir die Nöte der Menschen nie vollständig lösen können, sondern sie auch in Zukunft begleiten und unterstützen. Deshalb halte ich diesen Gedanken der quartiersbezogenen Unterstützung für sinnvoll, weil er dort ansetzt, wo die Menschen leben. Also ist auch die Bürgerbeteiligung ein hohes und wichtiges Gut, denn die Bedarfe ändern sich. Sehen wir uns die Altersstruktur der Menschen an, die zu uns kommen, erkennen wir, dass es zunehmend ältere Menschen sind. Denen müssen natürlich auch neue und andere Angebote gemacht werden, um gegen Vereinsamung oder Isolation vorzugehen. Die Projektbezogenheit ist immer eine besondere Herausforderung auch für uns, denn wir müssen diese Projekte mit Personal ausstatten. Und befristete Stellen sind nun mal unattraktiver als unbefristete.
Das heißt, auch auf der Caritas lastet der Fachkräftemangel nicht nur in der Pflege?
In der ambulanten und stationären Pflege, sicherlich. Die Bereitschaft zur pflegerischen Ausbildung geht zurück. Aber genauso ist es in der sozialen Arbeit. Es gibt immer mehr Bedarf dafür, also auch Stellen, die besetzt werden müssen. Darin verteilen sich dann weniger Fachkräfte. Ich glaube, dass die Bezahlung der Caritas nach AVR (Arbeitsvertragsrichtlinie; die Bezahlung der Caritas und Diakonie orientiert sich an Tarifen des öffentlichen Dienstes, Anm. d. Red.) gut ist, dass wir gute Leistungen für Arbeitnehmer bringen, aber ich denke, die Struktur einer Stelle gibt den Ausschlag: Teil- oder Vollzeit, befristet projektbezogen oder unbefristet. Das schreckt junge Menschen mit einem gewissen Lebensplan ab, mit befristeten Arbeitsverträgen wird es schwer, einen Hauskredit bei einer Bank zu bekommen. Diese Einschränkungen wirken sich natürlich auf die Besetzung solcher Stellen aus.
Wir erleben in diesen Tagen Solidarität zu Beginn der Pandemie, im Ahrtal und mit Flüchtlingen, aber auch Cancel Culture und CoronaLeugner. Wie bewerten Sie diese Einflüsse auf die Gesellschaft?
Wir haben alle verschiedene Meinungen und Ansichten. Ich denke, es gibt eine hohe Solidarität in der Gesellschaft. Keine Spaltung, nur unterschiedliche Strömungen. Wie bekunde ich meine Meinung und, der zentrale Punkt ist, lasse ich andere Meinungen zu? Das ist die Herausforderung der demokratischen Gesellschaft, andere Meinungen auszuhalten und immer wieder das Gespräch zu suchen. Impfgegner und Corona-Leugner sind sicherlich schwierig, auch für uns. Mit ihnen müssen wir uns auseinandersetzen, ihnen Informationen an die Hand geben und sie davon überzeugen, dass es notwendig ist, sich impfen zu lassen. Mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht aber ist die Bevölkerungsgruppe nun im Fokus, die während Corona den Kopf hingehalten hat. Die Konsequenz ist, dass wir einen angespannten Arbeitsbereich, die Pflege, weiter personell gefährden.
„Hohe Solidarität in der Gesellschaft"
Wie geht es nun für die Caritas angesichts der Situation weiter, wenn wir in Richtung Ende 2022 oder Anfang des kommenden Jahres schauen? Welche Auswirkungen der Krisen erwarten Sie weiter?
Wir hoffen, dass der Krieg in der Ukraine bald beigelegt werden kann und das auf diplomatische Weise. Wir hoffen auf eine gesicherte Energieversorgung. Nun kommt es darauf an, wie die Energiekonzerne ihre Abschlagszahlungen gestalten, sprich, ob sie schon im Jahr die Abschlagszahlungen erhöhen oder eine stark erhöhte Gesamtrechnung im Januar präsentieren. Dann werden wir sicherlich noch mehr Menschen sehen, die sich verschulden und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Mit einem normalen Energiespar- und Stromsparcheck, den wir in den Beratungsstellen anbieten, ist es ja dann nicht mehr getan. Bei gleichbleibend hoher Inflation, bei gleichbleibend hohen Lebensmittelkosten wird es für einkommensschwache Familien nicht mehr stemmbar sein. Wir werden also mehr Anfragen von Betroffenen erhalten und unsere Beratungsstellen darauf vorbereiten – trotz hoher Inzidenzen von Corona, die uns auch jetzt schon personell vor große Herausforderungen stellen.