Seit mehr als einem halben Jahr ist Carsten Schneider (SPD) als neuer Ostbeauftragter im Amt. Der 46-Jährige über Umbrucherfahrungen nach dem Mauerfall, die Zukunft der Schwedter PCK-Raffinerie und wo der Osten eine Vorreiterrolle einnehmen könnte.
Herr Schneider, Sie stammen aus Erfurt, sind in einem Plattenbau groß geworden. Welche Erfahrungen bringen Sie mit als Ostbeauftragter?
Ich bin 1976 in einem Dorf zwischen Erfurt und Weimar geboren und habe dann meine Kindheit auf dem Herrenberg verbracht. Das ist so ein typisches DDR-Plattenbaugebiet, das Anfang der 80er-Jahre entstand. Bis 1989 verlief das alles relativ normal: Polytechnische Oberschule, Pionierorganisation und FDJ. Als Radsportler habe ich auch das Leistungssportsystem kennengelernt, habe mit Freunden Fußball gespielt, viel gelesen, draußen gespielt, ein ganz normaler Junge eben.
Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung hat sich dann das ganze Leben auf einen Schlag verändert, alle Sicherheiten und Gewohnheiten brachen weg. Mit 14 Jahren habe ich natürlich in erster Linie die neu gewonnene Freiheit genossen. Die alten Autoritäten waren weg, neue Strukturen noch nicht aufgebaut, wir konnten plötzlich reisen, konsumieren, unsere Meinung frei äußern oder demonstrieren.
Auf der anderen Seite bekam ich natürlich auch die Kehrseite der Medaille hautnah mit: Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit, Zukunftsängste und soziale Abstiege. Alle mussten sich quasi über Nacht in einem völlig neuen System zurechtfinden und neu orientieren. Qualifikationen und Berufserfahrungen waren teils nichts mehr wert. Viele mussten in komplett neue Jobs umsteigen, manche versuchten, sich selbstständig zu machen und einige, letztlich zu viele, sind auch auf der Strecke geblieben. Diese spezifisch ostdeutsche Lebensleistung und die in alle Lebensbereiche durchgreifende Umbrucherfahrung nach der Wende sind sehr prägend für das ostdeutsche Selbstbewusstsein bis heute und werden teilweise im Westen immer noch zu wenig gewürdigt.
Generell drängt sich immer wieder der Eindruck auf, dass die Menschen im Osten unzufriedener sind, dass sie sich zurückgesetzt fühlen oder sogar beleidigt. Hat das damit zu tun, dass der Osten in vielen Gremien bis hin zur Bundesregierung (zwei von 17 Ministern) unterrepräsentiert ist?
Dieses stereotype Bild vom „Jammer-Ossi" wurde in der Vergangenheit immer wieder medial konstruiert, selbstredend oft genug auch von westdeutschen Kommentatoren. Ich fand diese Zuschreibung so pauschal immer falsch. Natürlich hat sich im Zuge der Wiedervereinigung einiges an Frust und Enttäuschung breitgemacht. Das hat zunächst mit den eingangs beschriebenen Verlusterfahrungen zu tun. Die Menschen hatten ja zuvor auch in der DDR etwas geleistet, Verantwortung getragen, Kinder großgezogen und sich unter teils schwierigen Alltagsbedingungen und sehr begrenzten Möglichkeiten etwas aufgebaut. Da fehlen bei vielen Westdeutschen das Interesse und auch das Verständnis für die Umbrucherfahrung. In den Nachwendejahren und zum Teil bis heute wurde und wird der Osten in der öffentlichen Debatte oft mit Nazis, der Stasi und Doping assoziiert, auch wenn es mittlerweile spürbar besser wird.
Aber es gibt auch wieder die jüngeren Jahrgänge, die sich vor Ort engagieren, neugierig und weltoffen sind, sich politisch einmischen und ihre Stimme erheben. Da gibt es ganz viele tolle kulturelle, soziale und ehrenamtliche Projekte zwischen Ostsee und Erzgebirge, ebenso wie innovative und mutige Unternehmensgründungen. Ich würde mir sehr wünschen, dass diese jungen Menschen mit ihren Ideen und ihrem Engagement mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Denn egal, ob in der Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Kultur, Medien oder Wirtschaft: Von den spezifischen ostdeutschen Erfahrungen und Kompetenzen können alle profitieren.
Ihr Vorgänger Wanderwitz nannte die Menschen in Ostdeutschland teilweise „diktatursozialisiert". Sie wollen auch um die AfD-Wähler im Osten kämpfen. Wie wollen Sie das machen?
Das fand ich doch sehr verkürzt und in dieser Einseitigkeit auch verfehlt. Wir hatten jetzt erst neulich den Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953, der mithilfe sowjetischer Panzer unterdrückt wurde. Es gab in der DDR immer wieder mutige Frauen und Männer, die den Mund aufgemacht haben und dafür schwere persönliche Konsequenzen in Kauf nehmen mussten. Dann hatten wir in den 80er-Jahren die Friedens- und Umweltbewegung und schließlich die großen Demonstrationen und Bürgerproteste, die die Mauer zum Einsturz brachten. Die deutsche Wiedervereinigung war in erster Linie das Verdienst der Ostdeutschen selbst und darauf dürfen sie zu Recht stolz sein.
Allerdings gehören die Abwertungserfahrungen, Enttäuschungen und Brüche der Nachwendezeit auch zu Ostdeutschland, und bestimmte Parteien und politische Repräsentanten wissen sehr genau, welche populistische Klaviatur sie spielen müssen, um aus diesen negativen Gefühlen Kapital zu schlagen.
Dabei sind viele Protagonisten gerade der AfD ja selbst wohlbehütet im Westen aufgewachsen und hatten dort teilweise schon beachtliche Karrieren, bevor sie in den Osten kamen. Das wird für meinen Geschmack noch zu wenig hinterfragt.
Ich habe ein relativ dickes Fell und bin auch ein Freund der deutlichen Aussprache. Im Osten ist die politische Kommunikation ja oft ein bisschen direkter, manchmal auch derber und das ist in Ordnung. Solange die Diskussionen in der Sache und mit einem gewissen Grundrespekt geführt werden, ist das sogar gewünscht. Ich bin ja derzeit sehr viel in Ostdeutschland unterwegs und merke eigentlich täglich, dass das direkte Gespräch miteinander noch immer das beste Mittel ist, um Missverständnisse und unberechtigte Sorgen auszuräumen, aber auch, um selbst dazuzulernen.
Kommt es zu einem Ölembargo gegen Russland, will der Bund die Schwedter PCK-Raffinerie unterstützen. Welche Pläne gibt es dafür?
Ich war in den letzten Tagen und Wochen mehrmals in Schwedt und habe mit den Beschäftigten, dem Betriebsrat und auch den Familien vor Ort gesprochen. Es geht hier um etwa 1.200 Kolleginnen und Kollegen, die auf den Standort vertrauen, jeden Tag hart arbeiten und für sich eine berufliche Perspektive geschaffen haben. Die Bundesregierung wird die Leute nicht im Regen stehen lassen und arbeitet gemeinsam mit der Landesregierung in Brandenburg, Betriebsrat und Geschäftsführung an konkreten Lösungen, die eine langfristige Perspektive für den Standort sicherstellen sollen.
Gibt es Unterschiede in der Beurteilung des Krieges von Putin gegen die Ukraine?
Der 24. Februar 2022 hat vieles grundlegend verändert.
Natürlich haben Ostdeutsche geschichtlich bedingt oft eine ganz andere, engere Beziehung zu Russland. Ich selbst habe in der Schule noch die russische Kultur, Literatur und Sprache gelernt. Zehntausende haben in der Sowjetunion die Erdölleitungen mit gebaut und waren teilweise monatelang dort tätig, es gab Studienaufenthalte, Städtepartnerschaften, zahlreiche Kooperationen im Sport, in der Kultur oder der Wissenschaft. Bei mir daheim gab es zwischen Weimar und Erfurt einen relativ großen Standort der sowjetischen Armee mit Alltagsbegegnungen, praktischen Tauschgeschäften und mehr.
Daher ist die Enttäuschung über den Angriffskrieg Putins bei vielen Ostdeutschen umso größer, mit der Folge, dass der Blick auf das aktuelle Russland sich sehr schnell gewandelt hat und sich der westdeutschen Perspektive annähert. In der Tendenz sehe ich das jedenfalls so, auch wenn es natürlich immer Ausnahmen gibt.
Immer noch gibt es die Unterschiede bei den Löhnen und den Renten zwischen Ost und West, und das mehr als 30 Jahre nach dem Fall der Mauer. Warum ist das nicht längst angeglichen?
Die noch bestehenden Unterschiede im Rentenwert sind nicht mehr sehr groß und ab 2025 werden die Rentenwerte zwischen Ost und West angeglichen sein. Die Beschlüsse dazu haben lange auf sich warten lassen, aber in der letzten Wahlperiode konnten wir das durchsetzen. In den vergangenen Jahren wurden die Renten im Osten stets mehr erhöht als im Westen. Diese deutlichen Erhöhungen und vor allem die Höherwertung der Rentenbeiträge hatten und haben einen guten Grund. Das war dringend nötig, denn viele, die jetzt oder in den letzten Jahren in Rente sind, hatten es wegen geringer Löhne oder Arbeitslosigkeit in den Nachwendejahren schwer, sich ein Polster fürs Alter aufzubauen.
Zudem hilft die von der SPD durchgesetzte Grundrente insbesondere vielen Ostdeutschen, die zwar viele Jahre gearbeitet und eingezahlt haben, aber wegen der teils sehr niedrigen Löhne nur geringe Anwartschaften erwerben konnten.
Ostdeutsche Beschäftigte haben auch enorm von der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns profitiert und es gibt auch keinen Grund mehr dafür, dass Ostdeutsche heute immer noch weniger verdienen oder für dasselbe Geld länger arbeiten müssen – insbesondere nicht bei großen, international tätigen Firmen. Wenn das immer noch möglich ist, dann liegt das oft auch daran, dass die Gewerkschaften im Osten schwächer sind. Ich will die Beschäftigten darin bestärken, selbstbewusster für ihre Rechte zu streiten.
Neuerdings wird auch kritisiert, dass nicht immer nur nach Himmelsrichtung Fördergelder verteilt werden sollen. Auch im Westen gebe es Regionen, wo dringend Bedarf herrsche und Kommunen, die sich abgehängt fühlten. Was sagen Sie dazu?
Das ist natürlich völlig richtig. Es muss in einem Bundesstaat, der sich laut Verfassung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse verpflichtet hat, immer um objektiv nachvollziehbare und sachliche Argumente gehen, nicht nach Himmelsrichtung.
Insofern müssen wir auch der Versuchung widerstehen, strukturschwache oder benachteiligte Regionen gegeneinander in Stellung zu bringen. Es ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, die nur gemeinsam gelingen kann.
Wohin steuert der Osten? Blühende Städte, ausgeräumte Landschaften mit riesigen Agrarfabriken, eine überwiegend ältere Bevölkerung?
Nein, der Osten hat noch ganz viel Potenzial: wirtschaftlich, demografisch und auch kulturell. Das entdecken auch immer mehr internationale Konzerne, wie die neueren Standortentscheidungen etwa von Tesla oder Intel zeigen. Wir haben viel Fläche, eine flexible und aktiv gestaltende öffentliche Hand, unglaublich motivierte und neuen Technologien gegenüber aufgeschlossene Menschen und tolle Ideen.
Wenn wir es schaffen, im Zuge der Energie- und Mobilitätswende eine Vorreiterrolle einzunehmen, dann kann sich Ostdeutschland in den nächsten zehn bis 20 Jahren zu einer modernen und innovativen Hochtechnologieregion mit Modellcharakter entwickeln. Dazu braucht es den politischen Willen, selbstbewusste Beschäftigte, mutige Gründungsideen, aber auch Kreativität, Weltoffenheit und sozialen Zusammenhalt.
Ich will meinen bescheidenen Teil dazu beitragen.