Bereits im Frühjahr klagten die Tafeln über einen unerwarteten Ansturm, Auslöser war der Ukraine-Krieg. Nach der Preisexplosion bei den Lebensmitteln ist die Nachfrage weiter gestiegen – doch die Spenden werden weniger.
Großmarkt Beusselstraße im Herzen von Berlin. Halle an Halle reiht sich aneinander, ein Labyrinth von Straßen in den Ausmaßen einer Kleinstadt. Hier beginnt die tägliche Versorgung der Hauptstadt mit Fleisch, Obst, Gemüse, aber auch mit Blumen. Die ganze Nacht über wurde geliefert, ab 2 Uhr morgens wird gehandelt.
Nur in Halle 44 ticken die Uhren anders. Hier beginnt der Dienst „erst" um 6 Uhr, die Regale in der Halle sind dann noch leer. Sie sollten sich im Verlauf des Vormittags noch reichlich füllen, hoffen jeden Tag aufs Neue die Mitarbeiter der Berliner Tafeln. Und während in den Lagerhallen ringsumher jeder Händler froh ist, wenn er sein Sortiment im Verlauf des Morgens losgeworden ist, füllen sich bei der Tafel die Regale bis zum Mittag: auch hier frisches Obst und Gemüse, Brot, Mehl, Nudeln und Reis, Konserven, auch hier emsiges Treiben.
Der Unterschied: Die Menschen dort arbeiten im Gegensatz zu denjenigen in den übrigen Hallen ehrenamtlich, stehen morgens früh auf und sammeln Lebensmittel im gesamten Stadtgebiet Berlins zusammen, um sie dann an die Ausgabestellen zu verteilen. Zuverlässige Helfer von Montag bis Freitag. Für den Präsidenten des Diakonischen Werkes Deutschlands, Ulrich Lilie, ein Wunder der Humanität. „Das zeigt mir jeden Tag, dass unsere Gesellschaft, trotz aller Verwerfungen, funktioniert. Wir treten den Beweis an, dass das Füreinander keine leere Phrase ist", so der 65-jährige Pastor im FORUM-Gespräch.
Dass überhaupt gespendet wird, ist meist der Initiative der Einzelhändler zu verdanken, auch auf der anderen Seite ist Eigeninitiative gefragt. Aktiv werben für Lebensmittelspenden ist den Tafeln verboten. Ist die „Ernte" der Tafeln in den Supermärkten gegen Mittag in der Tafel-Zentrale eingefahren, dann beginnt der schwere Akt. Welche Ausgabestelle bekommt was? Nicht immer ganz einfach. Fleischwaren zum Beispiel machen in den Berliner Bezirken mit vorwiegend muslimischem Bevölkerungsanteil wenig Sinn, dort ist vor allem Gemüse gefragt. Doch alle sollen gleich behandelt werden, darum wird an den Ausgabestellen an unterschiedlichen Wochentagen verteilt.
Mehr Kunden für die Tafeln
Eine dieser Ausgabestellen ist „Laib und Seele", die in der Erlöser-Kirche in Berlin-Tiergarten untergebracht ist. Am Ausgabetag ist nicht der Pastor Herr des Hauses, sondern Rolf Jaenke. Der 72-Jährige stellt am Vormittag schon mal die Tische zusammen, nach und nach kommen die Lieferungen aus den umliegenden Kiez-Supermärkten zusammen. Diese werden mit einem kleinen Transporter und per Lastenfahrrad eingesammelt. Doch Jaenke ist an diesem Vormittag unruhig, der Lkw von der Tafel-Zentrale hat sich verspätet, schließlich kommt er doch an. Nun werden die halb vollen Tische in der Kapelle aufgefüllt: Brot, Obst und Gemüse, Nudeln, Mehl, Käse, Milch und, ganz wichtig, Kartoffeln.
Gut 30 Freiwillige packen eine Auswahl von allem in große Papiertüten mit den Logos der bundesweit bekannten Lebensmittelhändler. Eine Tasche für jeden Kunden. „Schon das ist eine Aufgabe, diese Papiertüten zu besorgen, um die wöchentlichen Grundnahrungspakete für unseren Kunden schnüren zu können." Umweltschutz sei gut und wichtig, erschwert aber auch die tägliche Arbeit der Tafeln. „Früher gab es die Papiertüten umsonst, jetzt kosten sie 15 oder 20 Cent, die müssen nun neben den ganzen Lebensmitteln auch noch gespendet werden, damit unsere Leute die Spende nach Hause getragen bekommen." Auf die Nachfrage, warum die Spenden denn vorab in Tüten verpackt werden müssen, gibt Jaenke eine einfache Antwort: „Wir haben das früher ohne gemacht, aber durch den Ukraine-Krieg und jetzt die extremen Preissteigerungen ist der Ansturm einfach zu groß geworden." Und eine weitere Ehrenamtliche ergänzt: „Die Kräftigen verdrängten die Schwachen bei der Ausgabe, die Kartoffeln wurden von unseren Kunden zuallererst abgeräumt, darum haben wir das Tütensystem eingeführt."
Doch es gibt ein Nachschubproblem. Nicht nur die hohen Lebensmittelpreise lassen die Spendenbereitschaft sinken. Die Tafeln haben auch mit den deutschen Gesetzen zu kämpfen. Denn die Spender dürfen den Tafeln ihre Waren nicht einfach schenken. Vielmehr müssen die Lebensmittelspenden „auch steuerlich von den Lebensmittelhändlern angezeigt werden, das wird dann über die Umsatzsteuer verrechnet, zulasten der Spender, die das dann beim Abschluss geltend machen können. Keine Verlockung also, uns was zu spenden, schon wegen des Verwaltungsaufwands", so Jaenke. Er ist ein Banker alter Schule, hat bei der Dresdener Bank gelernt, war bis zu seiner Rente als Finanzexperte beschäftigt.
„Aufgabe der Barmherzigkeit"
Während drinnen noch die gespendeten Tüten gepackt werden, bildet sich vor der Tür der Erlöser-Kirche eine Schlange. Um 14 Uhr ist Ausgabebeginn. Ganz vorne, auf einem kleinen mitgebrachten Angelstuhl, sitzt Uwe, er ist hier Dauerkunde. „Ick hab nicht mal 400 Euro Rente, da hol ick mir hier immer allet wat ick brauche fürs Wochenende." Der 68-jährige ehemalige Ofensetzer gibt freimütig zu, nicht immer sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen zu sein, aber: „Ick hab imma jearbeitet, bis zur Rente." Ganze 398 Euro hat er im Monat. Um ihn herum sind ähnliche Geschichten zu hören. Altersarmut, zum Teil auch selbst verschuldet, Opfer der zurückliegenden Lockdowns, die beruflich und damit finanziell aus dem Leben gekegelt wurden, erst ALG 1, dann Jobcenter, dann Hartz IV. Gelegentlich müssen sie sich die Empfehlung vom Amt anhören: „Wenn Sie kein Geld mehr haben, dann müssen sie halt zur Tafel gehen", erzählt eine Frau Ende 40, die namentlich nicht genannt werden möchte.
Auch der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, hat von solchen Geschichten gehört. „Es kann nicht sein, dass Jobcenter bei persönlichen Zahlungsengpässen auf das Angebot der Tafeln verweisen", so Lilie. Diese unangenehme Empfehlung aber ist seit Anfang des Jahres für mehr Menschen bittere Realität geworden. Laut einer bundesweiten Umfrage unter 1.000 Tafeln in Deutschland hat sich die Zahl der Bedürftigen seit Anfang des Jahres fast verdoppelt. Damit sind nun bundesweit über zwei Millionen armutsbetroffene Menschen auf die Unterstützung der Ehrenamtlichen der Tafeln angewiesen. Für Diakonie-Präsident Lilie ist ein staatlicher Einstieg bei den Tafeln nicht der Weg, die Organisation zu unterstützen, um den Ansturm zu bewältigen. „Wir sind eine ungebundene, gesellschaftliche Organisation, unsere Aufgabe ist die Barmherzigkeit, das kann und darf nicht Aufgabe des Staates sein. Der Staat muss dafür sorgen, das sich alle Menschen mit ihren Einkünften auch versorgen können." Dies bedeutet, dass die staatlichen Transfers für sozial Schwache höher ausfallen müssten – nicht nur für Energie, sondern insbesondere auch für die Versorgung mit Lebensmitteln. Angesichts der weiter hohen Inflation und hohen Energiepreise heißt das für die Tafeln in Deutschland, ihre Kunden werden im kommenden Winter nicht weniger – sondern eher mehr.